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DIE VERBORGENEN UFER
VORSCHAUTEXT
Christian Haller erzählt in diesem autobiographischen Roman die Geschichte eines jungen Mannes, der es sich schon seit Kindertagen angewöhnt hatte, den Anforderungen, mit denen er konfrontiert wurde, auszuweichen. Dieses Verhaltensmuster behält er auch in Freundschaften und bei seiner ersten Liebe bei. Er duckt sich lieber unter den Erwartungen weg, als dass er sich ihnen stellen möchte. Im Vermeiden und Ausweichen entdeckt er aber eine Kraft, die ihn weiter tragen wird, als selbst die ihm nahestehendsten Menschen es für möglich gehalten hätten.
"Die gelassene Genauigkeit von Christian Hallers Sprache ist ihre Schönheit."
Neue Zürcher Zeitung
Am 19. Juni um vier Uhr nachts wird Christian Haller von einem dumpfen Schlag geweckt. Es dauert einige Zeit, bis er begreift, was dieser dumpfe Schlag bedeutet: Die Terrasse seines Hauses wurde vom Hochwasser des vorbeifließenden Flusses in die Tiefe gerissen. Aber nicht nur sein Haus ist bis in die Grundfesten erschüttert, auch sein Lebensfundament ist mit einem Mal untergraben und zeigt bedenkliche Risse. Diese Einsicht erschreckt den gerade siebzig Jahre alt gewordenen Autor, sie lähmt ihn aber nicht. Er weiß, wie er dem Schrecken begegnen kann – mit Erzählen. Und dieses Erzählen führt in die Tiefen seiner Erinnerung. Im Ton eines großen autobiographischen Romans blickt er zurück auf die Anfänge seines Lebens. Geduldig und mit einem nicht zu überbietenden Gespür für Stimmungen und untergründig sich regende Gefühle erzählt er von sich als Kind, als Schüler und später als Gymnasiast. Von seiner Leidenschaft für das Theater erzählt er, von der ersten Liebe – und von dem unbezwingbaren Hang, den Anforderungen der Wirklichkeiten auszuweichen und sich in Ersatzwelten zu flüchten. Und er erzählt zugleich von der verblüffenden Fähigkeit, sich in diesen Ersatzwelten mit einer Macht einzurichten, dass er in der Realität doch bestehen kann.
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FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, Mittwoch 6. Juli 2016
Wenn's alltäglich wird, drückt er auf die Tube
Einstürze aller Art zwischen Pathos und Ironie: CHristian Haller führt mit "Die verborgenen Ufer" sein grosses autobiographisches Erzählprojekt fort
Kurt Drawert
Es gibt wenige Autoren, bei denen Stoff und Erzählung, Intention und Produktion so stark auseinanderlaufen wie bei Christian Haller, der mit jedem neuen Buch ein gleiches Begehren obsessiv umkreist: Das immer fehlende Wort doch noch zu finden - jenes "Zauberwort" der Romantik, das die Dinge durchströmt und ihnen ihr Leben zurückgibt. Es ist dies der utopische Anspruch eines identischen Satzes, der in keiner Differenz zu sich selbst erscheint und die Sache, der er sich hingibt, vollkommen umschließt. So wird die Zurücknahme der Entfremdung mit und durch Sprache zu einem literarischen Projekt, das auf der Erzählebene zur unabschließbaren Archäologie des eigenen Lebens werden muss. Denn gleichviel, ob der Erzähler einen erfundenen Namen erhält wie "Im Park" von 2008 oder als Ich-Erzähler direkt zu uns spricht, über eine Reflektionsfigur agiert oder unmittelbar: Er ist immer das "Ich" auf der Suche nach etwas, das es gibt, aber niemals im realen Moment. Dieses aporetische Ereignis ist der Motor für eine Dynamik des Erinnerns, die nur äußerlich linear strukturiert ist. Um hier Freud zu paraphrasieren: Der Erzähler ist nicht mehr Herr im eigenen Haus seiner Erzählung, sondern er wird erzählt über eine ästhetisch gut inszenierte, feine, bisweilen aber auch überinstrumentierte Rhetorik. Das heißt nichts anderes, als dass wir uns auf jene verstörenden Unterströme des Lesens einlassen müssen, die auf der Oberfläche des Handlungsverlaufs, chronologisch geordnet und narrativ, scheinbar leicht verstanden werden können. Es ist die Syntaktik, die sich gegen die Semantik stellt, der schwankende Tonfall zwischen Pathos und Ironie, der hypotaktisch verschlungene Satzbau, der mitunter seine Aussage verliert und zum reinen Ton wird, zur Musik, die aus Sprache gemacht ist, es ist, anders gesagt, der Körper, der sich auflehnt und gegen das Gesetz des "großen Anderen" stellt, das von außen wirksam ist und die Gesellschaft vertritt.
Und es ist auch der Lyriker Haller, der gegen den Erzähler optiert und ihm vielleicht nie so recht glaubt. Zwei Autoren erscheinen hier wie Paten dieser in sich selbst begründeten Prosa: Marcel Proust in seiner insistenten Beschreibung von sinnlichen Details und, was den psychologischen Entwicklungsroman anbetrifft, Karl Philipp Moritz, dessen "Anton Reiser" durchaus in einer Verwandschaft zum Ich-Erzähler steht, der immer dann offenbar wird, wenn der Erzählstrom über das Erzählte hinausschwingt und einen Überschuss erzeugt, ein poetisches Zuviel.
"Die verborgenen Ufer", das ist nicht nur ein schöner Titel, der zur Metapher des ganzes Textes wird, sie sind auch tatsächlich lesend erfahrbar durch die Art und Weise, wie erzählt wird. Das ist nicht der große epische Atem von Handlungs- und Entwicklungsprosa, es ist die feine Ästhetik von Satzbau und Klang, die im sozialen Mikrokosmos einer Kleinstadtfamilie das Wesen einer Epoche freilegt. Und wäre der Erzähler nicht dadurch so stark, dass er einen unbewussten, selbst nicht mehr zu kontrollierenden inneren Ort sprachlich zugänglich macht, könnten wir gelegentlich auch gelangweilt werden. Denn was der Zeitfolge nach sehr genau beschrieben wird - und es läuft hauptsächlich immer darauf hinaus, wie der Erzähler zu einem Schriftsteller wurde -, ist Regionalerfahrung ohne gravierende Kanten und Brüche. Von Einstürzen der Art, wie sie als Exposition der Erzählung vorangestellt wurde, einmal ganz zu schweigen: "19. Juni, vier Uhr nachts, ein dumpfes Grollen. Ich schrecke hoch. Die Hausmauern zittern. Ein Erdbeben! Brechende, reißende Mauern, dann ein dunkel plumpsender Ton, gefolgt von einem hellen, spritzenden Rauschen, das in einem Regen fallender Tropfen erlischt. Stille. Sie schafft Gewissheit: Das Hochwasser hat einen Teil unseres Hauses weggerissen." Was hier hochdramatisch den Zusammenhalt eines Gebäudes bedroht, ist, zur Allegorie der Geschichte gebracht, inadäquat.
Immer wieder scheitert der ich-Erzähler an sich selbst, das Schreiben gerät immer stärker in den Vordergrund einer Selbstbeobachtung und wird so zu einem Objekt, an dem sich die Entwicklung zur Persönlichkeit vollzieht. Die intrinsische Sicht und hohe Empfindsamkeit auch für kleine Unebenheiten und Risse bekommt damit etwas Vorläufiges, Prozessuales, denn andernfalls wären einige Erzählstränge schlichtweg zu banal, um mitgeteilt zu werden. Auch ironische Distanz tut der gelegentlichen Übersensualisierung recht gut. Dass diese literarische Spiegelung des Ichs insgesamt doch gelingt, ohne allzu aufdringlich darauf hinzuweisen, dass sie natürlich auch ein sprachliches Spiel ist und Kohärenz nur erfindet, liegt an der symbolischen Kraft vieler Szenen und Bilder. Denn die zweite große Metapher für eine Verwerfung, wie sie das vom Fluss unterspülte Haus produziert, ist der Hirninfarkt Pippas, der Lebensgefährtin des Autors: "Damals war ihr eine Körperhälfte durch eine Hirnblutung weggebrochen, abgesackt in eine lebenslange Lähmung, und auch an jenem, nun schon dreißig Jahre zurückliegenden Morgen hatte ich im ersten Moment nichts empfunden und einzig die Notwendigkeit verspürt, kühl und überlegt zu handeln." Wir kennen Pippa aus früheren Büchern und haben ihren Leidensgang respektive den ihres Freundes schon mitverfolgt. Fast etwas zwanghaft kehrt auch hier diese Szene zurück und wird zum Symbol der unerwarteten Wendung, dem Fall von allem ins Nichts. Damit einher geht aber auch ein Wechsel des Stils. Die Sätze werden kurz, klar, schnell. Es scheint, als wollte der Erzähler immer dann das Tempo erhöhen, sobald er anekdotisch wird. Das sind die eher schwächeren Passagen, die benötigt werden, um dann die Zeit wieder zum Stillstand zu bringen, zum erlebten wahren Moment. In dieser Schwingungsvielfalt liegt die ganze Qualität dieser Prosa, die tiefer lotet, als es so manches Mal den Anschein hat. In diesem literarischen Werk des "Ich bin, weil ich war" kann es keinen letzten Satz geben. Dank des großen Schweizer Autors Christian Haller ist er auch unvorstellbar.
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WOZ Die Wochenzeilung 04.02.2016
CHRISTIAN HALLER
Sprache finden als Lebensrettung
In seinem autobiografischen Roman «Die verborgenen Ufer» ergründet der 72-jährige Aargauer Autor Christian Haller die Bruchstellen und Entwicklungslinien seiner Kindheit.
VON HANS ULRICH PROBST
Welch fulminanter Einstieg: Der Ich-Erzähler, in einem Haus am Rhein in Laufenburg wohnhaft, erwacht früh an einem Sommermorgen und spürt die Hausmauern zittern, dann brechen - das Hochwasser hat einen Teil seines Hauses weggerissen. Diese existenzbedrohende Katastrophe - niemand wird für den gewaltigen Schaden bezahlen wollen - ruft im Kopf des Erzählers die Erinnerung an die diversen ökonomischen Zusammenbrüche des Vaters hervor. Vor allem aber auch jene an das Unglück seiner Lebenspartnerin dreissig Jahre zuvor, als eine Hirnblutung ihre eine Körperhälfte wegbrach und sie in partieller Lähmung zurückliess. Wegen des Unglücks durch Naturgewalt erneut am "Nullpunkt der Existenz" angekommen, sieht der Verfasser gescheitert, was er sich einst vorgenommen hatte: "Den Neigungen zu folgen, doch die Fallen zu meiden, die das Leben bereithielt." Und nun beginnt er seinen "Kindheitsmustern" nachzuspüren, seinen Lebensweg erinnernd zu erzählen, wobei sich die persönliche Geschichte mit jener der Familie, der Gesellschaft, der Epoche, der Sitten verschränkt. Solches Verfahren kennzeichnet bereits Christian Hallers Roman-"Trilogie des Erinnerns", die, ausgehend von den Schicksalen der Mutter ("Die verschluckte Musik»", 200l), des Grossvaters "Das schwarze Eisen", 2004) und des Vaters "Die besseren Zeiten", 2006), die gesellschaftlichen Entwicklungen und Verwerfungen in der Schweiz und in Europa über viele Jahrzehnte hinweg in den Blick nimmt. Ein unterschätztes Hauptwerk der Schweizer Literatur des ersten Jahrzehnts des 2L Jahrhunderts, so historisch präzis wie anschaulich poetisch.
Der Wunsch, Schauspieler zu werden
Jetzt richtet der erfahrene Autor in «Die verborgenen Ufer» die Scheinwerfer mit gleicher Schonungslosigkeit auf das eigene Leben. Geboren im kalten Kriegswinter 1943 in Brugg, wächst der Erzähler ab vier Jahren im urban-modernen Basel auf, wo die Eltern sich wohlfühlen und das Kind trotz eines brutalen Lehrers die Wörter und Farben entdeckt. Doch die Familie wird vom autoritären Grossvater erneut in den Aargau verpflanzt, und der Protagonist muss bald zusehen, wie sein Vater - vom Bruder aus der gemeinsamen Firma gedrängt - zusammenbricht. Das ist eine Schlüsselszene, während die immer ihrem Kindheitsrumänien nachtrauernde Mutter sich als "Exilantin" fühlt und den Jungen die "Kraft, die im Erinnern lag" lehrt. Früh begreift dieser, dass er sich eine von der Familie "unabhängige Welt schaffen" muss. Haller erzählt dramaturgisch gekonnt, in klug gewählten kompakten Szenen, die auch schwierige Momente in eine bildstarke Sprache fassen.
Im zweiten Teil sehen wir den jungen Helden als mässig interessierten Schüler, der um so begeisterter die Weltliteratur und die Bühne entdeckt. Er besteht die Prüfung fürs Lehrerseminar Wettingen, und im düsteren Klosterbau im provinziellen Mief der endenden fünfziger Jahre und im Umfeld autoritärer "Pädagogen" reift der Wunsch, Schauspieler zu werden. Der Tod im "Jedermann" wird zur ersten Rolle. Eine erste, anrührend und sinnlich-subtil geschilderte Liebesbeziehung zu Veronique bricht der schüchterne Jüngling zunächst ab. Ein Jahr später wird sie wieder aufgenommen; als der Vater den beiden gemeinsame Ferien schroff verwehrt, fährt der Protagonist allein ins Tessin, durchstreift die üppig-wilden Täler. Und dann wird der Leser Zeuge der Geburt des Schriftstellers: Aus der einsamen, intensiven Auseinandersetzung mit Natur und Sprache heraus gelingt das erste Gedicht. Die Liebe zu Veronique dagegen kommt zu einem abrupten Ende.
Zwischen Anspruch und Realität
Im dritten Teil findet der Seminarist zunächst im Jugendbuchautor Max Voegeli einen verständigen Mentor; nach dem Abschluss absolviert er widerwillig die Rekrutenschule und eine Anstellung als Junglehrer, um sich dann endgültig einer poetischen Existenz zu verschreiben. Im Zürcher Niederdorf bewohnt er winzige Mansarden, übernimmt Gelegenheitsjobs, immer auf der Suche nach einer Freundin, die den so verklemmten wie hochtrabenden Jungdichter anzunehmen wüsste, wie er ist. Grossartig, wie Haller vom kindnahen ernsten Ton der ersten Kapitel zu einer selbstironischen Halbdistanz zu wechseln versteht, wie er ohne Beschönigung und mit feinem Humor die Klüfte zwischen Anspruch und Realität ausleuchtet! Am Euue steht die Begegnung mit der Schauspielschülerin Pippa, deren weltläufiges Schauspielerelternhaus ihm neue Horizonte eröffnet und zeigt, dass Familie auch anders sein kann, denn noch ist der Anfangzwanziger "zutiefst überzeugt, dass die Familie ein gefährliches und zerstörerisches Element im Leben eines Menschen" sei. Mit Pippa zusammen sieht er sich bereit zu einer riskanten freien Künstlerexistenz, ebenso mutig wie die Konstruktion seines Hauses über dem Rhein.
Christian Haller: "Die verborgenen Ufer". München 2015. Luchterhand Verlag. 254 Seiten. 29 Franken.
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CICERO Nr. 12 Dezember 2015
Nur langsam kann sich's lichten
Prügelpädagogik, Farbentrost, Liebesgier: Der Schweizer Schriftsteller Christian Haller erinnert sich an eine Kindheit
von Alexander Kissler
Ist jedes Leben ein Roman? Taugen die Tatsachen unseres Lebens zur romantischen Erzählung oder zum aufklärerischen Projekt, über uns hinausweisend? Wo verläuft die Grenze zwischen dem Exemplarischen und dem Ephemeren? Solche Fragen wirft der große Schweizer Romancier Christian Haller mit dem Titel seines neuen Werkes auf. "Die verborgenen Ufer" steht da auf dem Umschlag rot auf weiß, oberhalb eines Schildes von schwarzer Kohle, die vielleicht Zeichen verdeckt, vielleicht Buchstaben, und gleich daneben, schwarz, klein: "Roman". Das Buch enthält die Kindheits- und Jugendgeschichte Christian Hallers. Es ist eine Autobiografie. Einblicke liefert sie in bittere Stunden schwarzer Pädagogik. Der Schüler Haller wurde von seinen Lehrern mehr als einmal durchgeprügelt. Niemand fand etwas dabei, nicht einmal er selbst. Herr Stirnimann, "seinem ganzen Wesen nach ein Offizier, der seine Klasse wie eine Kompanie führte", geriet derb außer sich, als Schüler Haller an der Tafel nur zu Boden blickte, statt Antwort zu geben, "die Fausthiebe trafen mich auf Brust, Arme, Rücken und am Kopf. ( ... ) Ich sackte zusammen, lag auf dem Boden, und er drosch weiter auf mich ein. Erst das Schrillen der Pausenglocke stoppte die Tritte und Schläge." Christian Haller wurde 1943 in Brugg geboren. Schlimmes widerfuhr ihm nach seinem 70. Geburtstag. Mit einer Katastrophe hebt diese Selbstvergewisserung an. Eines frühen Morgens reißt das Hochwasser einen Teil seines Hauses hinweg, unter dessen Veranda der Rhein dahintreibt. Haller - genauer: das Ich, das spricht - sieht sich am "Nullpunkt der Existenz" angekommen. Depressionen folgen, Geldnöte, die Versicherung will nicht zahlen. Das "Daseinsgebäude, das in seiner Anlage unkonventionell und in der Ausführung statisch gewagt war, von mir ein stetig stabilisierendes Ausbalancieren verlangte, war weggebrochen wie jetzt die Terrasse auch, die an diesem Morgen im reißenden Wasser verschwunden war." Also beginnt er, sich und uns Rechenschaft abzulegen, schreibend: Wie hatte ein Lebenslauf begonnen, der nun am Ende schien? Im Roman will er aus den Ruinen jenes Werden rekonstruieren, das oft abbrach vor der Zeit.
In Christian Hallers schmalem Roman "Im Park" (2008), eigentlich eine zart-präzise Bewusstseinsnovelle, droht sich ein Paläontologe zu verfehlen zwischen junger Frau und langjähriger Partnerin, die siech daniederliegt nach einer Hirnblutung. Auch hier kehrt dieser Befund, dieses Schicksal wieder, die "lebenslange Lähmung" Pippas im Haus über dem Rhein. Neu lernen wir das Keimen einer Leidenschaft für Ablagerungen und Sedimente kennen, wie sie zentral werden sollte für die Erzähl- und Wahrnehmungsweise Hallers. Schon der Knabe nämlich entbrennt für die Urgeschichte, beteiligt sich als 14-Jähriger an Grabungen und erfährt, was später den Schriftsteller prägen wird: Für das "Suchen und Finden" - sei's im Halbdunkel der Höhle, sei's dann am Schreibtisch - bedarf es der Langsamkeit und der Geduld. Nur so lässt sich "eine längst vergessene Struktur aus der Erde" herausarbeiten. Die Erde hat ein Gedächtnis, das man lesend freilegen kann, Kultur heißt Lesen.
Der Dichter wird als Archäologe geboren. Damit ist die entscheidende Weiche gestellt. Kunst um der Kunst willen verbietet sich dann ebenso wie Kunst zu unmittelbar politischen Zwecken. So ist dieser Lebensroman neben vielem anderen auch eine besonnene Poetologie. Ihr ist die Erkenntnis buchstäblich eingeschrieben, dass alle Erkenntnis sich im Modus der Lektüre vollzieht. Selbst Kastanienbäume "erschienen mir als eine Art von Schrift", Steine tragen Zeichen, und wer liest, wird immer schon gelesen, "andere", heißt es, würden in die eigenen Worte "hineinsehen, wovon ich schrieb". Wer schreibt, ist nicht allein.
WAS IST SIE NOCH, diese Vita eines immer Werdenden? Ein Bildungsroman aus pädagogischer Provinz ist sie, den die Liebe zur Bühne fast wie weiland "Wilhelm Meisters theatralische Sendung" grundiert. Das schwächliche Kind entwickelt sich zum langen Lulatsch, der den Mädchen beim Tanzen auf die Füße tritt und sich in den Worten Hamlets oder Wallensteins ausgedrückt sieht. Schauspieler will er werden und damit den denkbar dicksten Strich durch das väterliche Erbe ziehen, diese althelvetische Pflichtenmoral eines Firmendirektors der Holzindustrie.
Der aus Köln stammenden Mutter und ihren rumänischen Wurzeln knüpfte Haller in seinem meisterlichen Hauptwerk, der zwischen 2001 und 2006 erschienenen "Trilogie des Erinnerns", einen Gedankenteppich ganz eigener Art. Hier ist sie die opake Frau, die nach dem Umzug nach Basel "die leichte und durchsichtige Farbe der Gartenlandschaft" annahm. Der Poetologie und dem Bildungsroman gesellt sich eine juvenile Liebesgeschichte mit Hindernissen hinzu. Die hübsche Veronique beteuert ihre Zuneigung, doch der schüchterne Christian beschenkt sie mit Worten, fast mit Worten nur, aus Berührungsscheu, die er sich zum Einsamkeitsgebot des Künstlers umbiegt. Ohne sie verbringt er intensive Tage im Tessin. Bei Ponte Brolla wird ihm eine Unio mystica zuteil. Einfache Wörter wie Gras oder Kastanie verwandeln durch ihren Klang "den Moment des Schauens in ein eigenes Bild, das in mir leuchtete, das Dunkel erhellte, in dem ich mich ( ... ) eingeschlossen fühlte". Eines Tages dann tritt Pippa ins Leben, die Schauspielerin, und tanzt, Jahrzehnte vor dem lähmenden Schlag. Der junge Mann lebt nun in Zürich und will Philosophie studieren und lässt es bald sein. Schließlich ist dem Roman, en passant wie alles Wesentliche, eine Farbenlehre beigemischt. Menschen sind, wie die elegante Frau Mama im Basler Garten, Träger und Rezipienten von Farben und somit abermals Zeichen. "Meine Farben" nennt der Erzähler die Kombination aus "rotem Sandstein", "gelblichen Bricksteinen" und "grauem Sandstein", aus dem das Schulhaus errichtet war. Farben sind Orientierungspunkte auf der Landkarte des Lebens. Um sie wahrnehmen zu können, braucht es Licht, zur Not jenes Halbdunkel der Grabungen unter Tage, wo "die aufgehobene Pfeilspitze sich mit den einfallenden Sonnenstrahlen in den Weiden des Seeufers" verband. Klänge es nicht zu heideggerianisch, ließe sich als Nutzanwendung aus diesem in seiner lakonischen Melancholie ganz adventlichen, ganz rührenden Buch, einem Roman dann doch, das Fazit ziehen: Leben ist Lichtung.
Christian Haller
"Die verborgenen Ufer" Luchterhand. München 2015. 256 S., 19,99 €
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LITERARISCHE WELT, Samstag, 19. 3. 2016
Kein Wasser, kein Strom, aber Ideale
Hans im Pech: Christian Hallers trauriger Entwicklungsroman
Paul Jandl
Man sollte das Wort "töricht" unter Artenschutz stellen. Es stirbt aus mit den Menschen, zu denen es passt wie der geschlossene oberste Hemdenknopf zu blassfarbenen Herrenblousons; es stirbt aus mit einer Generation, die in ihren Unfug so viel vorausschauende Selbstironie einbaut, dass sie niemals die Qualen der Selbstscham zu erleiden hat.
Vor Kurzem hat Andreas Maier mit "Der Ort" das autobiografisch sanfte Porträt eines jungen Mannes als tumber Tor präsentiert, jetzt legt der Schweizer Christian Haller Ähnliches vor. Anderes Land, andere Generation, aber gleiche Ausganglage: die Geschichte eines Spätzünders, der Großes mit sich plant. Er will Schriftsteller werden, und dieses Unterfangen führt zu existenziellen und tragikomischen Komplikationen. Der Roman ist ein ernstes Buch, aber seine Mischung aus Empathie und schonungsloser Distanz eröffnet einen schillernden Raum literarischer Selbsterforschung. Nichts gilt es zu denunzieren, sondern auf der schmalen Linie der Wahrheit zu bleiben.
"Die verborgenen Ufer" beginnt mit einem Tosen, einem Grollen, einem Knall. Das Hochwasser des Flusses, an dem das Haus des Erzählers steht, hat die Terrasse unterspült. Sie ist weggebrochen, das Gebäude selbst, so stellt sich heraus, steht auf höchst unsicherem Grund. Ein Menetekel, ein Symbol, und das Ich des Romans kann an diesem Punkt seines fortgeschrittenen Lebens sagen: So was kommt von so was. Auf schwankendem Boden ist diese Existenz gebaut, und während Geologen und Statiker am Flussufer bedenklich den Kopf wiegen, rollt sich eine Biografie auf, die wohl ebenso viel mit der Schweiz zu tun hat wie mit dem Autor selbst. Christian Haller, 1943 im aargauischen Brugg geboren, stellt die spießige Weltfremdheit eines Landstrichs der Lebensuntüchtigkeit seiner Ich-Figur gegenüber. Das ergibt unschöne Konkurrenz, aber auch einen Roman der Ecken und Kanten. In seinen besten Fünfzigerjahrezeiten fährt der Vater in Maßanzug und heckflossenbreitem Ford Fairlane übers Land. Als Besitzer einer Maschinenbaufirma verdient er Geld, das auch schnell wieder verloren sein kann. Dann tritt der tyrannische Großvater in sein patriarchales Recht. Er, der erfolgreiche Fabrikant, macht den Sohn zur Sau und den Enkel damit doppelt unglücklich. Denn der Unternehmergeist der Vorfahren ist bei ihm endgültig zum Geistigen heruntergewirtschaftet. An Träumen und Idealen hängt der junge Mann. Er will erst Archäologe werden, dann Schauspieler, und weil er doch eine sichere Existenz braucht, versucht er es als Lehrer.
Im kleinen Städtchen eckt er mit unkonventionellen Methoden an, bis es heißt, er habe ein Verhältnis mit der Mutter eines Schülers. Das passiert ausgerechnet ihm, der sich seiner dramatisch schönen Freundin Veronique eher mit einem Klassiker in der Hand nähert als mit erotischen Absichten! Die einen haben Sex, die andern Ideale. Das bleibt auch so, als Hallers Held nach dem Verlust des Lehrerpostens ins Zürich der wilden Sechziger geht, um dort als Schriftsteiler zu reüssieren. Max Voegeli heißt der damals realexistente Autor, der ihn zum Schreiben ermuntert.
Der Erzähler ist beeindruckt und verdingt sich unterdessen als Lochkartenmanipulant bei einer Versicherung, als Hausierer und als Buchhändler. Der Mensch, für den er auf diese Weise arbeitet, ist der Lyriker Arturo Fornaro, seines Zeichens Luchterhand-Autor wie auch Christian Haller heute. Im Trübsinn einer wasser- und stromlosen Mansardenwohnung bricht die Architektur der Ideale dann eines Tages endgültig zusammen. Ein Verlag schickt eine Absage, die Arbeit gebende Buchhandlung ist bankrott und die aktuelle Freundin, eine Schauspielerin, hat Erfolg und das Weite gesucht.
"Die verborgenen Ufer" ist einer der traurigsten und scheinbar ausweglosesten Entwicklungsromane, die man sich denken kann, und Christian Hallers Held ein Pechvogel durch und durch. Ein Tor, der die Tür zum Leben nicht findet, ein Wahrheitssucher, dessen Misserfolgsgeschichte zumindest postfaktisch Lügen gestraft wird. Christian Haller zählt heute zu den großen Stilisten der Schweizer Literatur, die das Glück feiner Nerven haben und das Pech, mit diesen die Ungerechtigkeiten des Literaturbetriebs ertragen zu müssen.
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Neue Zürcher Zeitung vom 18.11.2015
Autobiografisches von Christian Haller
Sein und Stein
In seinem neusten Buch betreibt der Schriftsteller Christian Haller eine Archäologie in eigener Sache. Er sucht nach den Gründen dafür, warum er wurde, was er ist.
von Samuel Moser
Seit langem schon betreibt Christian Haller die literarische «Archäologie» seiner Biografie. In der «Trilogie des Erinnerns», aber auch in der Geschichte des Fotografen Clemens Lang («Der seltsame Fremde») erzählte er nicht nur Familiengeschichte, sondern setzte – immer mit den Mitteln des fiktiven Romans – die Schichten der eigenen Existenz frei. Dabei war das Ich Figur und Autor. Im neuen Roman «Die verborgenen Ufer» nun ist diese Doppelrolle zunächst einmal aufgegeben: Haller ist Haller. Autobiografie also. Diese Form gibt auf die ihn im Kern umtreibende Frage «Wer bin ich?» immer schon eine Antwort: Ich bin der, der schreibt.
Wegbrechende Fundamente
Hallers Roman erzählt nun aber auch, dass das nicht immer so war. Das Ich musste erst einer werden, der schreibt. «Die verborgenen Ufer» ist ebenso Entwicklungsroman eines Künstlers, der über das Private einer Autobiografie hinausgreift. Ein Detail nur, aber aufschlussreich: Die Rahmenhandlung beginnt mit einem Hochwasser, das die Fundamente des Wohnhauses des Autors wegbrechen lässt. Mit ihnen alle seine Lebensgewissheiten.
Das «Wegbrechen» ist ein Leitmotiv der «Verborgenen Ufer». Von Anfang an sieht sich Haller zum Scheitern verurteilt. Über den Eingang der eigentlichen Erzählung setzt er: «An einem Wintermorgen um sechs Uhr früh wurde ich in eine Welt geboren, in der zu leben ich nicht sehr fähig wäre.» Es folgt eine lange Kette von Krisen, die zwar zu einer normalen Entwicklung gehören, in der Umgebung der Hallers jedoch eine besondere Akzentuierung erfahren. Die Widersprüche der Fabrikantenfamilie mit dem dominierenden Grossvater, dem schwachen, aber nicht weniger autoritären Vater und der noblen, in ihrer Bukarester Vergangenheit versunkenen Mutter setzen den jungen Christian unter Druck, der regelmässig zu überhöhten Erwartungen an sich selbst und tiefen Abstürzen führt. In der Angst vor Verlusten und damit auch vor Bindungen werden Einsamkeit und Schwermut grundlegende Lebenserfahrungen. Christians Wege sind Holzwege, Umwege: das archäologische Interesse des Schülers, die Theaterleidenschaft des Studenten, das kurze Gastspiel als Lehrer, das Walser nachempfundene «Hausburschen»-Dasein. Der «Bruch mit allem» (vor allem mit dem, was nach Familie aussieht) macht seine Zerrissenheit zwischen bürgerlicher und künstlerischer Existenz nur noch deutlicher. Im Verlangen nach dem Absoluten zerstört er Freundschaften, seine grosse Liebe Veronique und sich selber.
Es gibt auch glückliche Wendungen. Im Schreiben des jungen Lyrikers Haller etwa, wenn es zum Hinhören wird auf das, was die Worte selber «zeigen». Auch im Leben, wenn Pippa, zu der er schliesslich eine dauerhafte Beziehung findet, zurückkommt, nachdem auch sie einmal den Egomanen nicht mehr ausgehalten hat. Von dieser Rückkehr allerdings redet die Lebenserzählung dann nicht mehr. Wir erfahren sie wieder in der Rahmenhandlung, Jahrzehnte später. Haller ist mittlerweile ein «alter Mann» geworden und hat eine weitere Katastrophe erlebt: Pippa erlitt einen schweren Schlaganfall, wurde invalid. Auch daran erinnert er sich jetzt beim Hochwasser. Und an Pippas Satz, als sie damals zurückkam: Wir müssen uns selber ein Fundament erschaffen. Das sagen auch die Geologen: Auf Fels allein ist kein Verlass.
Konkretheit und Abstraktion
Man wird in Hallers Roman manchmal die Dichte früherer Bücher vermissen. In den Romanen, gerade als er weiter weg von sich schien, war er doch an vielem näher dran. Konkrete Bilder und Momente dienen jetzt der Abstraktion. Die feine Motivlinie etwa, die vom wegbrechenden Fels zurück zu den Grabungen des jungen Archäologen und zu den Kieseln im Mund des Schauspielschülers führt, wird im Maggiatal-Erlebnis schliesslich zur erleuchtenden «Lehre». Auf dem Pfad von Ponte Brolla vernimmt Haller die zur Sanftheit geschliffenen Flusskiesel: «Ich müsste ‹Stein werden›», rufen sie ihn auf. Und dieses romantisierende Konzept einer Natur, die dem Heranwachsenden seine «Bestimmung» zeigt, gehört ja nicht einfach nur zu den Irrungen des jungen Künstlers. In modifizierter Form behält es für Haller seine Gültigkeit bis in die Gegenwart. Wieder sind es in der Hochwasserkatastrophe Fluss und Stein, die sein Dasein bestimmen.
Leerraum
Den gültigen Beweis, dass Haller ein Dichter geworden ist, liefert er nicht in der Rekonstruktion seiner Karriere, sondern da, wo er Dichter bleibt, wenn er autobiografisch über einen werdenden Dichter schreibt. So im sicher schönsten Teil des Buches, wenn er mit Intuition und Phantasie die Zeit der frühesten Kindheit überhaupt erst darstellbar macht und zeigt, wie die Dinge durch das Sehen selber Farbe annehmen, wie Welt und Ich gleichzeitig entstehen. Und nicht zuletzt gehört zu den literarischen Leistungen Hallers dann auch die Entscheidung, die Autobiografie beim Auszug Pippas abzubrechen, den Rahmen zu schliessen, ihre Rückkehr und die Jahrzehnte bis zum Hochwasser nicht zu erzählen. Diesen Raum leer, vielleicht auch «dunkel» zu lassen. Es ist ja der Raum, der ihn als erfolgreichen Dichter hätte zeigen können. Erfolgreich und eben doch ungesichert. Wie anders hätte das Hochwasser ihn dermassen erschüttern können. Und so ist am Ende auch die Frage offen, ob – in anderer Weise – Sein und Stein nicht wieder aus der Ruhe kommen werden.
Christian Haller: Die verborgenen Ufer. Roman. Luchterhand-Verlag, München 2015. 255 S., Fr. 28.90.
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NZZ am Sonntag vom 24.01.2016
Kämpfen um jedes Wort
Im Roman «Die verborgenen Ufer» erzählt Christian Haller nüchtern und packend von seinen frühen Jahren.
Von Manfred Papst
Der Rhein führt Hochwasser und unterspült die Häuser der Laufenburger Altstadt. Am 19. Juni 2013 erwacht der Schriftsteller Christian Haller von einem dumpfen Grollen. Die Fluten haben einen Teil seines Hauses weggerissen, die Terrasse ist ins Wasser gerutscht und versunken. Was auf Fels gebaut schien, erweist sich als höchst unverlässlich.
Mit dieser symbolgeladenen Szene beginnt Christian Hallers neues Buch. Der Siebzigjährige sieht sich im Gefühl bestätigt, dass sein bisheriges Leben in den Fundamenten beschädigt ist: Sein gerade erschienener Roman «Der seltsame Fremde» ist bei einem Teil der Kritik auf heftige Ablehnung gestossen, seine langjährige Partnerin hat ihn verlassen. Angstzustände suchen ihn heim. Er gerät in eine Depression – und rettet sich ins Schreiben. Wie ein Archäologe legt er Schicht um Schicht seiner Existenz frei. Er steigt hinab in die Keller seiner Kindheit und Jugend. Mit poetischer Kraft schildert er das Erwachen der frühkindlichen Wahrnehmung, das allmähliche Lesbar-Werden der Welt. Wir begegnen Figuren wieder, die wir aus Hallers «Trilogie des Erinnerns» kennen: der grossbürgerlichen Mutter, die den Jahren im prächtigen Bukarest nachtrauert, dem Vater, der zwar Fabrikant ist, dem übermächtigen Grossvater aber nicht Paroli bieten kann und seine ohnmächtige Wut darüber an den beiden Söhnen auslässt.
Christian Haller wächst in den rauen und bigotten 1950er Jahren auf. Die Schule wird ihm zur Qual. Er ist Legastheniker, liest nur stockend, fürchtet die Diktate. Eine moderne Diagnostik und Therapie gibt es noch nicht. Den prügelnden Pädagogen gilt er einfach als der dumme, verstockte Hallerli. Doch der Aussenseiter sucht mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit seinen Weg. Mit einem Freund entdeckt er die Archäologie und verbringt ungezählte glückliche Stunden mit Grabungen, mit dem Präparieren und Inventarisieren der Fundstücke. Er schafft sich eine Gegenwelt; die erst 13-, 14-jährigen Freunde leisten Bedeutendes, doch als sie auf einer Fachtagung von einem Professor Vogt als dilettantische Pfuscher abqualifiziert werden, verliert Christian Haller alle Freude an der Sache und löst seine Sammlung auf.
Es ist nicht das letzte Mal, dass er feindseligem Unverständnis begegnet. Sein Weg zum Künstler ist gewunden und schwierig. Nüchtern und auf den ersten Blick fast kunstlos berichtet Haller von seinen Versuchen, Schauspieler und Lyriker zu werden, von seinen ersten Lieben, die an seiner Verklemmtheit wie an seinem kompromisslosen Anspruch scheitern, von seinen Erfahrungen im Lehrerseminar und von seiner an Robert Walser erinnernden Randexistenz als Hausbursche in der Zürcher Buchhandlung Bürdeke an der Kirchgasse, der in einer Mansarde wohnt und sich in der Volksküche verpflegt. Auch von seinen halbherzigen Versuchen, Philosophie zu studieren, erzählt er, sowie von seinen Begegnungen mit dem Jugendbuchautor Max Voegeli, die grosse Bedeutung für ihn hatten. Im Gegensatz zu den 2001 bis 2006 erschienenen Romanen «Die verschluckte Musik», «Das schwarze Eisen» und «Die besseren Zeiten», welche die «Trilogie des Erinnerns» bilden, verzichtet Christian Haller in seinem neuen Buch ganz auf fiktionale Elemente. Es wäre jedoch falsch, ihm deshalb Mangel an Gestaltung oder gar Kunstlosigkeit vorzuwerfen. Gewiss: Eine gewisse Kantigkeit und Sprödigkeit war diesem grossen Autor immer eigen. Er ist kein Spieler, kein leichtherziger Virtuose, sondern einer, der an der Sprache arbeitet wie ein Bildhauer an seinem Stein. Als Schüler mag er am Widerstand des Materials gelitten haben; als Erwachsener braucht und sucht er ihn – und schafft eine dicht gefügte Prosa. Dass diese dichterisch ist, zeigt sich besonders in ihrer unterschwelligen Symbolik. Wie Adern sich durch den Stein ziehen, so ziehen sich die Metaphern durch Hallers Sprache, und es ist gewiss kein Zufall, dass eine kleine Epiphanie, die der einsame junge Mann im Tessin erlebt, sich ihm in der Sprache der Steine mitteilt: «Je länger ich mich mit Schauen und Zeichnen beschäftigte, desto mehr glaubte ich, die in den Felslinien verborgene Bedeutung zu verstehen: Ich müsste ‹Stein werden›. Die Muster im Fels besagten, dass es einen Zustand reinen Seins gebe, fest und unzerstörbar wie Stein und doch in seiner Festigkeit nicht starr und unveränderlich.»
Christian Hallers Autobiografie ist ein Künstler- und Entwicklungsroman, der von äusserer und innerer Enge handelt, vom Aufbegehren eines sensiblen jungen Menschen, dem seine Ernsthaftigkeit und Unbedingtheit immer wieder in die Quere kommen. Der junge Christian Haller ackert sich durch das berühmte Schauspieler-Lehrbuch von Stanislawski und glaubt daraufhin, nicht mehr in einer Laien-Aufführung mittun zu dürfen, weil er damit seine reine Kunst kompromittiere, und er verzichtet lieber auf gemeinsame Ferien mit seiner Geliebten, als seine Eltern mit einer Notlüge über sein Vorhaben zu täuschen. Er hat es entsetzlich schwer mit sich. Umso eindrücklicher, dass er schliesslich den Weg ins Freie findet.
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Badische Zeitung, 2.1.16
Von Lebenskrisen und Lebensträumen
Der Laufenburger Autor Christian Haller schreibt in einem sehr persönlichen Roman über Kindheit, Jugend und Identitätssuche.
LAUFENBURG. In der eindrucksvollen "Trilogie des Erinnerns" hat sich der in Laufenburg/Schweiz lebende Schriftsteller Christian Haller intensiv mit der Geschichte seiner Familie auseinandergesetzt. Nun legt der preisgekrönte Autor den autobiografischen Roman "Die verborgenen Ufer" vor. Darin taucht er wiederum ein in die Tiefen der Erinnerung ein und blickt zurück auf seine Kindheit und Jugend und die Suche nach der künstlerischen Identität.
Auslöser und Rahmenhandlung ist ein dramatisches Ereignis vor zweieinhalb Jahren, das dem Autor buchstäblich den Boden unter den Füßen wegriss. Der mächtig flutende Rhein hatte die Terrasse und Teile der Mauer seines Wohnhauses in Laufenburg am Rheinufer mitgerissen. "19. Juni, vier Uhr nachts, ein dumpfes Grollen. Ich schrecke hoch. Die Hausmauern zittern", so beschreibt es der Ich-Erzähler, der das Gefühl hat, seine Existenz sei in den Grundfesten erschüttert und das Fundament seines Daseins habe schwere Risse erhalten: Sein fragil ausbalanciertes "Daseinsgebäude", wie es Haller nennt, sei weggebrochen wie die Terrasse im reißenden Fluss.
Die Katastrophe ruft in dem Autor die Erinnerung an ein erschütterndes Ereignis vor Jahrzehnten hervor, als seine Lebenspartnerin eine Hirnblutung erlitt. Schicht um Schicht, gleich einem Archäologen, gräbt der 72-Jährige die Erinnerung an die ersten beiden Jahrzehnte seines Lebens aus, bis etwa Mitte zwanzig. So gesehen ist es ein Entwicklungsroman, denn er behandelt vor allem die Schulzeit, das Erwachsenwerden und die Studentenjahre.
In der ihm eigenen sensiblen und präzisen Erzählkunst schildert der 1943 in Brugg geborene Autor sein Aufwachsen in der Kriegs- und Nachkriegszeit, den Umzug der Familie nach Basel, die strenge Schulzeit unter einem altgedienten Schulmeister, der seine Klasse wie eine Kompanie führte, brüllte und auf den scheuen Schüler einprügelte. Die weiteren Schuljahre in den 50er- Jahren in einem Dorf im Aargau, wohin die Familie übersiedelte, beschreibt er mit ebenso detaillierter Feinheit und Genauigkeit der Sprache wie die Erinnerungsbilder von seinem Vater als Direktor einer Firma und der Mutter als eleganter Dame.
Von Ausgrabungen zu großen Monologen
Der Leser erfährt, wie der Heranwachsende Interesse an Archäologie entwickelt und an Ausgrabungen teilnimmt und zunehmend begeistert die große Theaterliteratur liest. Der Jugendliche will Schauspieler werden, studiert die großen Monologe und Rollen der Theatergeschichte und hat als "Tod" im Schauspiel "Jedermann" seinen ersten öffentlichen Bühnenauftritt. In diese Zeit fällt die Begegnung mit seiner Jugendliebe Veronique. Scheu und vorsichtig, voller Berührungsängste, verhält sich der Jüngling bei den Treffen mit dem schönen selbstbewussten Mädchen, das die Modeklasse an der Kunstgewerbeschule Zürich besucht. Als Veronique vorschlägt, gemeinsam in Urlaub zu fahren, verweigert die Familie die Zustimmung. So fährt der Gymnasiast und angehende Schauspieler allein ins Maggiatal, konfrontiert mit seinen tief schürfenden Gedanken, Zweifeln und zerrissenen Gefühlen. Die zarte Beziehung zerbricht, als Veronique von einem anderen schwanger wird.
Mit klarer Einsicht und unbestechlichem Blick auf diese bewegte Zeit erzählt Haller von verschlungenen Lebenswegen, von der kurzen Zeit als Lehrer in Rheinfelden, von der Hinwendung zum Schreiben, von dem aufkeimenden Wunsch, Schriftsteller zu werden. Wie ein Stück Künstlerboheme lesen sich die Passagen, in denen der Autor von seiner Beschäftigung in einer Buchhandlung in Zürich, vom bescheidenen Leben als mittelloser Künstler und Student in einer Dachkammer, vom Essen in der "Volksküche", von der Begegnung mit der Schauspielerin Pippa erzählt. Das junge Paar lebt in einem Mansardenzimmer, hat kaum Geld, der junge Mann zieht sich so sehr in seine schriftstellerische Arbeit zurück, dass ihn seine Freundin eines Tages verlässt.
Haller gibt in diesem Roman Einblicke in die empfindsame Künstlerseele eines jungen Mannes, der seinen Weg sucht und Momente des Glücks und Unglücks, der Lebenskrisen und Lebensträume durchlebt. Zum Schluss schlägt er wieder den Bogen zu dem vom Hochwasser ausgehöhlten Haus als einem Bild für die Brüchigkeit der Existenz, aber auch für den Mut, weiterzumachen.
Ein sehr persönliches, berührendes Buch dieses meisterhaften Romanciers.
"Die verborgenen Ufer" von Christian Haller, Luchterhand, 255 Seiten
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Das Leben ist kein ruhiger Fluss
Zeitschrift living & green Dezember 2015
Am 19. Juni um vier Uhr morgens wird Christian Haller von einem dumpfen Schlag geweckt. Die Terrasse seines Hauses wurde vom hochwasserführenden Rhein in die Tiefe gerissen. Die verborgenen Ufer, der neue Roman von Christian Haller ist der Buchtipp der Woche.
Der Schrecken war nicht da, zunächst nicht, zunächst galt es noch den Granatbaum zu retten. Er stand an der Abbruchkante der Terrasse und drohte in die Wassermassen zu stürzen. Erst als Christian Haller gemeinsam mit Technikern und Ingenieuren im Boot der Kraftwerksgesellschaft saß und in die klaffende Wunde blickte, die einmal seine Terrasse war, schlich sich das Ausmaß der Zerstörung langsam in sein Bewusstsein. Das Hochwasser hatte das Haus in dem er lebte bis in dessen Fundamente hinein zerstört. Mehr noch: Es hatte auch seine Lebensfundamente angegriffen, das ins Wanken gebracht, worauf er gebaut hatte – als Schriftsteller und als Mensch.
Mit Die verborgenen Ufer hat der Schweizer Schriftsteller Christian Haller einen sehr persönlichen Roman geschrieben. Wer Hallers Bücher kennt ist seinen Lebensstationen von Werk zu Werk gefolgt. In der Trilogie des Erinnerns beispielsweise erzählt er Teile seiner Familiengeschichte, jetzt legt er Schicht für Schicht seine Existenz frei. So wie der Schüler Christian Haller bei seinen archäologischen Ausgrabungen arbeitet, verfährt der Schriftsteller Christian Haller mit sich selbst. Er berichtet aus seiner Kindheit, geprägt von einem autoritären Großvater, einem labilen aber nicht weniger autoritären Vater und einer Mutter, die sich in die Erinnerungen an eine noble Bukarester Vergangenheit geflüchtet hat. Er berichtet von sich als Kind, das sich erst an das Sehen von Farben gewöhnen musste, das über viele Jahre an einer legasthenischen Lese- und Schreibschwäche litt und er berichtet über die wechselnden Leidenschaften für die er brannte – als Kind, als Jugendlicher und als junger Erwachsener.
An einem regnerischen Tag radelte er mit seinem Freund Fredi auf einem Kinderfahrrad zu seiner ersten archäologischen Exkursion. Viele folgten, bis beide bei einem Kongress von einem führenden Wissenschaftler vor Publikum abgekanzelt wurden. Danach war es Schluss mit der Archäologie. Mit der gleichen Intensität wandte er sich der Schauspielerei zu, las Stücke, rezitierte große Monologe, fühlte den Stolz und den unbeugsamen Charakter Wallensteins in sich und konnte Hamlets Zögern und Angst in sich spüren. Dann hörte er seine Stimme auf einer Tonbandaufnahme und war schockiert. Wallenstein und Hamlet hatten einen Sprachfehler. Sie konnten kein R. Aber auch das wird er üben, bis er es beherrscht.
Selbstverständlich gab es auch Lieben auf diesem Weg. Eine hat Christian Haller verspielt, die zweite beinah. Da war er schon Dichter - ohne Erfolg noch und ohne Verlag. Irgendwann, im Übergang von der Jugend in eine frühe Erwachsenenwelt, hatte er seinen Weg zum Schreiben gefunden. Im Maggiatal war er auf einen Stein gestoßen und glaubte in dessen Linien seine Zukunft zu sehen. „Ich müsste Stein werden", dachte er und schrieb noch am selben Tag sein erstes Gedicht.
Wenn Christian Haller vom Werden eines Schriftstellers erzählt, dann ist das keine autobiographische Nabelschau. Es ist vielmehr ein sich Einfühlen in eine intime Gedankenwelt. Haller weiß, dass Erinnerungen ihren eigenen Wahrheiten gehorchen, dass sich auch im eigenen Leben Realität und Fiktion vermischen. Seinem feinen, künstlerischen Gespür ist es zu verdanken, dass sich auch in diesem Roman beides bruchlos miteinander verbindet. Das Leben ist kein ruhiger Fluss, das Erzählen schon. Die verborgenen Ufer, der Roman von Christian Haller ist soeben im Luchterhand Literaturverlag erschienen.
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Der kleine "Bund", Mittwoch 23. 12. 2015
Aufbrüche in die Rückzugsgebiete
Von Alexander Sury
Christian Haller wurde mit seiner Familiengeschichte «Trilogie des Erinnerns» bekannt. «Das verborgene Ufer» ist nun ein nuancenreicher Künstler- und Entwicklungsroman.
Das Hochwasser vollführt sein zerstörerisches Werk in den frühen Morgenstunden, ein «dumpfes Grollen» kündigt es an. Die Ufermauer von Christian Hallers Haus direkt am Rhein bricht weg. Das Fundament, auf dem er lebte, wird buchstäblich weggespült. Fachleute staunen, denn sie finden erst nach langem Suchen ein schmales Felsband, auf dem sich das mittelalterliche Haus wieder einigermassen verankern lässt. Der zu diesem Zeitpunkt 70-jährige Mann glaubte sich, obwohl an Angstzuständen leidend und von den ablehnenden Kritiken zu seinem jüngsten Buch verunsichert, mittlerweile einigermassen sicher vor existenziellen Erschütterungen; der Fluss aber reisst ihn buchstäblich mit in einen Erinnerungsstrom. Kindheitsmuster tauchen auf, und die eigene, von Beginn an als ungenügend empfundene Lebenstauglichkeit sucht ihn heim.
Von diesem gefühlten «Nullpunkt der Existenz» aus blendet er zurück in die Anfänge seines Lebens: und dies im Worts i nn, imaginiert Haller doch eine hochpoetische Rückführung zum Schauplatz des zur Welt Kommens. In der Kriegszeit kommt er im Kreissaal einer Provinzstadt auf die Welt. Sinnesreize, insbesondere der Wechsel von Hell und Dunkel, lösen immer wieder Schwindelanfälle aus, erst der Spracherwerb, dieses Worten der Welt, geben dem sensiblen Kind eine gewisse Sicherheit. «Aus dunklen Räumen» ans Licht
Der 1943 in Brugg geborene Schriftsteller und Dramaturg Christian Haller ist mit seiner eigenen, aber im fiktiven Gewand erzählten Familiengeschichte «Trilogie des Erinnerns» (2001–2006) einem breiteren Publikum bekannt geworden. Unverhüllt autobiografisch tritt Haller in «Das verborgene Ufer» jetzt auf. Er wächst auf mit einer vornehmen Mutter, die sich im Exil wähnt und der grossbürgerlichen Vergangenheit ihrer Familie in Rumänien nachtrauert, der Vater ist Spross einer tatkräftigen Fabrikantenfamilie und wird vom Patriarchen der Sippe nach Gutdünken beruflich eingesetzt. Das Kind, in der Schule dem Drill der 1950er-Jahre ausgesetzt und als Legastheniker Zielscheibe von Spott und Unverständnis, will nichts mit diesen Geschäften der Erwachsenen zu tun haben; es schafft sich eine eigene, von der Familie unabhängige Welt: «Eine Welt, zu der sie keinen Zutritt haben.»
Ohne Zorn und Eifer, in einer an Beobachtungen und sy m bolisch aufgeladenen Bildern reichen Sprache, spürt Haller mit einer subtilen Hartnäckigkeit diesem Kind nach: Wie es sich mit einem Freund der Archäologie widmet und auf Grabungsfeldern gewichtige Funde macht, wie es die Schauspielerei entdeckt und so dem Gefängnis des eigenen Ich zu entfliehen hofft. Eine erste Liebe scheitert an der Unbedingtheit des Jünglings, der seine künstlerische Berufung durch Liebe und Beziehung gefährdet sieht.
Der Geburt des Künstlers stehen äussere wie innere Hindernisse entgegen, familiäre Prägungen ebenso wie im Rückblick notwendige Umwege. Nach dem Lehrerseminar flieht er zunächst in ein subalternes «Hausburschen»-Dasein und richtet sich in einer Robert Walser’schen Nischenexistenz ein. Im Centovalli erlebt er ein Erweckungserlebnis beim Anblick von Steinen: «Die Muster im Fels besagten, dass es den Zustand reinen Seins gebe, fest und unzerstörbar wie Stein und doch in seiner Festigkeit nicht starr und unveränderlich.»
Diese unsichere, von Verweigerung und dem Streben nach dem Absoluten geprägte Existenz der jungen Jahre hat Haller ein halbes Jahrhundert später eingeholt – und er hat sie auf bewundernswerte Weise aus den «dunklen, verschlossenen Räumen» in sich selbst ans Licht hervorgeholt.
Christian Haller: Das verborgene Ufer. Roman. Luchterhand-Verlag, München 2015. 255 Seiten, 28.90 Fr. (Der Bund)
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literaturmarkt 29. 2. 2016
Literatur von Meisterhand geschrieben
Susann Fleischer
Am 19. Juni um vier Uhr nachts wird Christian Haller von einem dumpfen Schlag geweckt. Es dauert einige Zeit, bis er begreift, was dieser dumpfe Schlag bedeutet: Die Terrasse seines Hauses wurde vom Hochwasser des vorbeifließenden Flusses in die Tiefe gerissen. Aber nicht nur sein Haus ist bis in die Grundfesten erschüttert, auch sein Lebensfundament ist mit einem Mal untergraben und zeigt bedenkliche Risse. Diese Einsicht erschreckt den gerade siebzig Jahre alt gewordenen Autor, sie lähmt ihn aber nicht. Er weiß, wie er dem Schrecken begegnen kann - mit Erzählen. Und dieses Erzählen führt in die Tiefen seiner Erinnerung. Sie führt ihn vom Zweiten Weltkrieg hin zum Dasein als Künstler der Sprache, wie Haller einer ist.
Haller erblickt an einem Wintermorgen des Jahres 1943 das Licht der Welt. Und diese ist geprägt von Zerstörung. Ein Überleben zu dieser Zeit scheint beinahe unmöglich. Doch schnell zeigt sich Hallers Kampfgeist, der ihm stets erhalten bleibt - zum Beispiel, als er von seinem Lehrer Stirnimann zu Unrecht vor der ganzen Klasse niedergemacht wird. Oder als er als Teenager von einem angesehenen Professor als "Betrüger" bezeichnet wird, weil er sich mit seinen 13 Jahren archäologisch betätigt. Niemals gibt Haller auf. Und wenn doch, dann sucht er sich ein neues "Hobby". Bis er schließlich eines Tages beim Schreiben landet und damit seine Berufung findet. Hier kann er seinen Emotionen endlich Ausdruck verleihen und ihnen Kraft geben.
Von seiner Leidenschaft für das Theater erzählt Haller, von der ersten Liebe und von dem unbezwingbaren Hang, den Anforderungen der Wirklichkeiten auszuweichen und sich in Ersatzwelten zu flüchten. Und er erzählt zugleich von der verblüffenden Fähigkeit, sich in diesen Ersatzwelten mit einer Macht einzurichten, dass er in der Realität doch bestehen kann. Mit der Erfordernissen das rauen Alltags klarzukommen, ist nicht leicht, insbesondere nicht, wenn man seine Zeit mit dem Verfassen von Gedichten oder in Schauspielseminaren verbringt...
Unterhaltung, die einfach alles in den Schatten zu stellen vermag - unter den Schweizer Schriftstellern ist Christian Haller einer der ganz Großen. Das beweist er auch mit "Die verborgenen Ufer". Was man hier in die Hand bekommt, ist Lesegenuss pur. Stundenlang kann man das vorliegende Buch gar nicht mehr aus der Hand nehmen. Denn in diesem steckt Literatur auf höchstem Niveau. Haller beherrscht sein Schreibhandwerk in Perfektion. Er erzählt seine Geschichten dermaßen fesselnd, dass man mit der Lektüre gar nicht mehr aufhören kann. Und außerdem erzählt er diese mit besonders viel Gefühl, sodass man nach nur wenigen Seiten mit dem Weinen nicht mehr aufhören kann. Seine Worte sind die hellfunkelndste und schönste Poesie auf der Welt.
"Die verborgenen Ufer" ist definitiv eine Geschichte, wie man sie nicht alle Tage liest. Christian Haller trifft mit seinem autobiographischen Roman den Leser im tiefsten Herzen und rührt ihn zu Tränen. Hier zeigt sich: Die Werke des Autors sind literarische Juwele - und das vorliegende ist mindestens ein hochkarätiger Diamant, wenn nicht sogar Brillant. Dieses Buch sollte man deshalb hüten wie einen kostbaren Schatz.
Literaturmarkt
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SONNTAG 21. 01. 2016
EMPFEHLUNG AUS DER REDAKTION
Verstörendes Fremdsein aufspüren
Roland Erne
Sein Schreiben ist vor allem dies: Selbstvergewisserung. Davon jedenfalls zeugt Christian Hallers nahezu gesamthaftes Werk, vor allem aber die zwischen 2001 und 2006 erschienene «Trilogie des Erinnerns», die in den drei autobiografisch grundierten Romanen «Die verschluckte Musik», «Das schwarze Eisen» und «Die besseren Zeiten» die eigene Familiengeschichte auffächert und dabei auch die gesellschaftliche Entwicklung der Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spiegelt. Mit dem jüngsten Roman «Die verborgenen Ufer» ist sich der 1943 in Brugg geborene Schriftsteller nun abermals selbst auf der Spur: Haller erzählt weitgehend ungefiltert von sich - mit dem bohrenden Nachdruck autobiografischer Dringlichkeit. Eruptiver Auslöser ist eine Naturgewalt: Der reissendes Hochwasser führende Rhein hat die Terrasse unter der Veranda an der Ufermauer von Hallers Wohnhaus im aargauischen Laufenburg weggespült - unauslöschliches Sinnbild für ein so etwas wie fundamental beschädigtes Leben. Gerade erst hatte ihn die langjährige Partnerin unerwartet verlassen und war ein zeitgleich veröffentlichtes Buch des damals Siebzigjährigen ("Der seltsame Fremde") auf «teilweise heftige Ablehnung» gestossen. Schlagartig auch wieder da ist die Erinnerung an die «bisher verstörendste Lebenserfahrung»: eine doch lange zurückliegende Hirnblutung von Pippa, seiner Begleiterin in jungen Jahren, die damals desillusioniert ausgezogen und wieder in ein Mansardenzimmer zurückgekehrt war.
Daraus resultiert bei Haller erwartungsgemäss nicht etwa ein selbstmitleidiges Parlando, sondern vielmehr das einmal mehr offensichtlich zwingende Hinterfragen der eigenen Existenz mit dem wiederkehrenden Kernmotiv des Wegbrechens von Gewissheiten, die es nie gab. Kardinalfrage dabei: «Wer war ich selber?» Geboren in eine Welt, «in der zu leben ich nicht sehr fähig wäre», schildert Haller zumeist schnörkellos sein krisenanfälliges Schlingern als Tagträumer und immer wieder neue Rückzugsgebiete erkundender Heranwachsender, überfordert vom (Schul-)Alltag und den nicht weniger geprüften (Gross-)Eltern, mal vertieft in eine Kinderbibel, mal beschäftigt mit archäologischen Funden oder getrieben von Schauspielerambitionen und der Versuchung des Abseitsstehens als Hausbursche à la Robert Walser im Zeichen eines elementaren Fremdseins. Geblieben ist ihm der lohnende Rückzug in den «Schreibkosmos» - einer früh erahnten Neigung folgend.
Christian Haller: Die verborgenen Ufer Luchterhand-Verlag, München 2015. 256 Seiten, Fr. 29.90 ISBN 978-3-630-87465-4.
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SDA 3. 11. 15, verschiedene Zeitungen
Blick in gähnende Abgründe
Von Beat Mazenauer, sfd
An einem 19. Juni, nachts um vier Uhr, bricht alles zusammen. Der flutende Rhein reisst Teile des Fundaments von Christian Hallers Haus gewaltsam mit sich. Das erschreckte Erwachen eröffnet dem Autor einen Blick in gähnende Abgründe. Er schaut genauer hin und erkennt darin ein familiäres Muster, das er zu rekonstruieren versucht.
Mutig ist, wer sein Leben nah ans Ufer baut. Vielleicht ist es nicht einmal so wichtig, ob der Mutige genau Bescheid weiss, wie dünn dafür die Unterlage ist. Er tut es einfach - auf die Gefahr hin, dass alles einbricht. "War es möglich, dass es keinen Fels gab, dass unser Haus auf losem Untergrund stand?" fragt sich der Autor ungläubig an jenem Tag der Katastrophe.
Nach aufwändigem Suchen finden die Arbeiter schliesslich ein schmales Felsband, in dem sich das bedrohte Haus neu verankern lässt. Dennoch sitzt der Schock tief. Die Katastrophe hat dem Autor ein anderes Bild in Erinnerung gerufen: als er vor Jahrzehnten einmal seine zugige Mansarde betrat und nur eine kurze Abschiedsnotiz seiner Freundin vorfand. Auch damals gab es ein schmales Band des Vertrauens, womit das Unheil abgewendet werden konnte.
Der Dichter als junger MannChristian Haller hat zwischen 2001 und 2006 in der beeindruckenden "Trilogie des Erinnerns" die Geschichte seiner Familie erzählt. Die rumänischen Träume der Mutter, die Tatkraft des grossväterlichen Patriarchen und schliesslich das Scheitern des Vaters. Der Autor suchte sein familiäres Fundament zu ergründen. Mit dem drohenden Zusammenbruch seines Hauses konfrontiert, kommen all die verflogenen Illusionen und Träume nochmals ans Tageslicht.
Er setzt bei seiner schwindelnden Geburt an. Das Kind tritt nicht leicht in die Welt, und bald schon vermag auch der kleine Junge dem familiären Stolz nicht gerecht zu werden. Seine schulischen Leistungen sind mangelhaft, die Zunge wehrt sich standhaft gegen die Sprache. Mehr und mehr kompensiert er sein Ungeschick im Umgang mit Kameraden durch innere Träume. Archäologe möchte er werden, dann Schauspieler, und schliesslich Dichter.
Er findet Fürsprecher. Zugleich versteht es die vermaledeite Pädagogik jener 1950er Jahre perfekt, allzu kühne Träume in den Senkel zu stellen. Dies gilt erst recht für das keimende Verlangen nach Freundschaft, Liebe, Sexualität.
Verrat an der Kunst?
Wie viel Liebe und Zuneigung zu einer Frau ist möglich, ohne den Traum vom Dichter zu verraten? Diese Frage treibt den jungen Mann um. "Am Nullpunkt der Existenz" viele Jahre später, am Rand des reissenden Flusses, besinnt sich Christian Haller wieder darauf.
Chronologisch rekonstruiert er sein Leben bis zu jenem Punkt Mitte zwanzig, als Pippa, seine Freundin, ihn verliess - doch glücklicherweise wieder zurückkam. Die titelgebenden "verborgenen Ufer" werden von den kleinen und grossen Krisen frei gespült.
Ein grosser Lebensbogen
Allem voran die schulische Pädagogik bekommt dabei ihr Fett ab. Sie zeigt sich in dieser Erinnerung in keinster Weise berufen, einen unsicheren Jungen wie den Erzähler zu unterstützen. Und als er später, das Lehrerpatent im Sack, eine erste Anstellung erhält und die erfahrene Misere nicht an seinen Schülern abreagieren will, wird er "mit Schimpf und Schande" weggejagt.
Das ist mit schöner, berührender Gelassenheit erzählt. Der grosse Bogen des schwierigen Erwachsenwerdens ist immer wieder durchsetzt mit Preziosen der präzisen Beobachtung. In all den Nöten und Zweifeln, Hoffnungen und Momenten des Erkennens durchdringen sich Glück und Unglück aufs Schönste.
Christian Haller: Die verborgenen Ufer. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2015. 256 Seiten, Fr. 29.90 (UVP).
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Aargauer Zeitung, verschiedene Zeitungen
LITERATUR
Vom Leseschwachen zum Literaten: Lebenskrisen als Glück für Leser
Christian Haller kennt sich aus mit Lebenskrisen. Zum Glück für seine Leser.
von Anna Kardos
Knall auf Fall. Oder umgekehrt: erst Fall, dann Knall. Das ist, was Christian Haller (72) eines Nachts um vier aus dem Schlaf reisst. Und der Autor ahnt noch nicht, was in diesem Moment alles mitreisst: die Veranda seines Wohnhauses am Rheinufer, die darunterliegende Mauer – aber auch seine finanzielle Existenz und mit ihr: der Boden unter seinen Füssen.
Was ist passiert? Der gestaute Fluss hat das Gemäuer des Mittelalterhauses aufgeweicht, bis es einbrach. Für den Schaden aufkommen muss und will keiner und Haller selbst vermag es aus eigenen Mitteln nicht.
Die Story des autobiografischen Romans «Die verborgenen Ufer» könnte sich auswachsen zu einer literarischen Telenovela à la «Armer Autor erlebt Tragödie seines Lebens», doch das Gegenteil ist der Fall. Denn die existenzielle Bedrohung wirft den arrivierten Schriftsteller auf grundsätzliche Fragen zurück: Wer bin ich? Was bleibt, wenn meine Existenz infrage gestellt wird? Und: Wie kam es, dass ich zum Autor wurde? Und schon ist man als Leser mit dabei im Kreisssaal des Provinzspitals, wo der eben entbundene Säugling Christian seine frierende Mutter anpinkelt. Es ist Krieg. Aber nicht diese latente Bedrohung ist es, die den Knaben ängstigt. Nein, das Dunkel der Nacht, aber genauso das grelle Sonnenlicht, die Töne um ihn herum.
Erst mit dem Erwerb der Sprache wird die Welt fassbarer, die Dinge verlieren an Schrecken, die Anlage des Knaben zum Schriftsteller scheint zum ersten Mal auf, von allen ungeachtet: «Durch den Namen blieben die Dinge unveränderlich fest, (…) blieben nur einfach das, was sie waren.»
Dafür bleibt im Leben der Hallerschen Familie nichts wie gehabt. Sie zieht nach Basel, wo die Mutter durch das bürgerlich-städtische Umfeld – und der Vater durch seine neue Stellung als Fabrikdirektor aufblühen. «Nun hatte Papa ein Lächeln um den Mund, war ein Herr, der Mama küsste und beim Gehen die Hand auf meine Schulter legte.» Doch selbst die latente Bedrohung war mit umgezogen und zeigte sich nun in Alpbildern – sowie im Schulunterricht. Denn der Knabe Christian hat eine Leseschwäche; heute unter dem Namen Legasthenie erkannt und behandelt, doch für damalige Lehrer der Inbegriff bübischer Verstocktheit.
In Folge dieser Schwäche gleichen die Kindheits- und Jugendjahre des Schriftstellers einem Zickzackweg zwischen Fluchten und heimtückisch lauernden Schluchten. Nicht zufällig begeistert sich der Heranwachsende für Archäologie und zum Abtauchen in vergangene Zeiten, dann für Schauspielerei, also der Möglichkeit zu einem anderen Sein. Doch beide Leidenschaften werden jäh beendet – einmal durch Kritik von aussen, einmal von Haller selbst. Auch das Lehrerseminar und die erste grosse Liebe scheinen in Sackgassen zu führen. Krise als Beruf und Lebensprinzip? Als der junge Mann einmal mehr nicht aus noch ein weiss, schleicht sich die Literatur quasi von hinten an: Auf einem Spaziergang verschmilzt der Anblick von Natur zu einer Art Schrift; die Worte fallen ihm wie von selbst zu.
Er braucht sie nur noch aufzuschreiben. Natürlich wird auch der Weg zur Literatur dem Meister der Selbstkritik nicht zum Sonntagsspaziergang werden. Aber ab dann stellt sich seiner konstanten Krise eine weitere Konstante zur Seite: die Literatur. Und wenn ihm ein väterlicher Schriftstellerfreund den Rat gibt: «Glauben Sie ja nicht, Sie könnten den Aarauer Frühlingsmarkt besser beschreiben als einen Basar, nur weil Sie in Suhr aufgewachsen sind», schüttelt man als Leserin vehement den Kopf. Es ist der einzige falsche Satz in «Die verborgenen Ufer». Denn mit seinem neuen Buch ist Haller nach einem Ausflug ins Fantastische zurückgekehrt zu seinen Stärken: dem Erzählen über das Eigene, das sich schon in der «Trilogie des Erinnerns» in einer Mischung aus Echtheit, Eindringlichkeit und Exotik kristallisierte.
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Haller, Christian
Die verborgenen Ufer
Roman
Luchterhand Literaturverlag
München 2015, 255 S.
von Heinrich Boxler
Mit dem Roman „Die verborgenen Ufer“ setzt der Autor Christian Haller seiner erfolgreichen, dreiteiligen Familiensaga einen weiteren Glanzpunkt auf. 2001 erschien unter dem Titel „Die verschluckte Musik“ die Geschichte der Mutter, die in Rumänien aufgewachsen ist. Die Trilogie fand ihre Fortsetzung 2004 im Buch „Das schwarze Eisen“, in dem sich der Schriftsteller mit dem Grossvater auseinandersetzte. Die Familiensaga endete 2006 mit dem Buch „Die besseren Zeiten“, das den Spuren des Vaters nachgeht. Sehr eindrücklich war auch der Roman „Im Park“ von 2008, in dem Christian Haller einen Mann schildert, dessen Partnerin eine Hirnblutung erleidet, was in ihm, der sich eben in eine junge Frau verliebt hat, Schuldgefühle weckt.
Der neue, autobiographische Roman beginnt buchstäblich mit einem Knalleffekt:
S. 5 In der Morgenfrühe des 19. Juni bricht die Ufermauer der vorgelagerten, flussseitigen Terrasse ein.
Es bleibt nicht bei dieser Katastrophe. Sie steht eher symbolisch für das Leben des Ich-Erzählers, das zu dieser Zeit in den Fundamenten erschüttert wird. Vor wenigen Wochen hat ihn seine langjährige Partnerin unerwartet verlassen. Zur selben Zeit ist ein Roman, an dem der Autor lange Jahre gearbeitet hat, vielerorts ungnädig aufgenommen worden. Erstmals plagen den Autor Angstzustände und Depressionen. Dabei hat er doch in seinem Leben viele Katastrophen durchgestanden.
Dieses bewegte Leben von der Geburt bis zur Heirat mit Pippa ist der Inhalt des Buches. Es berichtet von einem übermächtigen, äusserst autoritären Grossvater, den man aus dem Roman „Das schwarze Eisen“ kennt. Mit 4 Jahren erfolgt der Umzug nach Basel, wo der Vater eine Stelle als Fabrikdirektor antritt. Die Mutter schätzt als ausgesprochener Stadtmensch die neue Umgebung, in der sie ihren Eltern nahe ist. Sie hasst die Prahlerei von Vaters Verwandten, während diese das Verhalten der Mutter als vornehmes Getue abtun. Eines Tages kommandiert der Grossvater die Söhne nach Aarau und befiehlt, dass der ältere Bruder die technische Leitung seiner eben gekauften Giesserei- und Maschinenfabrik übernehme, während der Vater des Erzählers für die kaufmännische Leitung zuständig sei. Nur ungern gibt der Vater seine Stelle in Basel auf, und die Familie zieht schweren Herzens nach Suhr. Eines Tages sieht der junge Erzähler, wie der Grossvater seinen Sohn im Chevrolet anschreit und ihn auf Betreiben des Bruders aus dem Geschäft hinauswirft. Der junge Erzähler durchläuft eine begeisterte, intensive Zeit, in der er mit einem Freund ganz in archäologischen Grabungen aufgeht. Bundesrat Etter drückt den beiden jungen Archäologen als hoffnungsvollem Nachwuchs die Hand, während der Direktor des Landesmuseums vor versammelter Fachwelt ihr Tun als dilettantisch und schädlich brandmarkt. Bald schon gehen die Zukunftspläne von Eltern und Erzähler weit auseinander. Während jene ihn in einer kaufmännischen Lehre sehen, träumt er von einer Zukunft als Schauspieler. Leserinnen und Leser sind gespannt, wie sich der Junge in der Berufswelt zurechtfinden wird. Sie tauchen ein in ein Leben, das kaum bewegter und faszinierender sein könnte. Was hier als trockenes Gerüst skizziert ist, weitet sich zu einem dichten Geflecht vielschichtiger, ausserordentlich lebendig und anschaulich erzählter Erfahrungen aus. Der Autor erinnert sich an einen Lehrer, dessen Turnstunden aus Marsch- und Schwenkübungen bestanden. Der gleiche Lehrer konnte auch wutentbrannt einen Schüler mit Schlägen und Tritten traktieren. Nachhaltig hat sich dem Autor der Wechsel von der städtischen Schule in Basel zur ländlich-bäuerlichen in Suhr eingeprägt. Geschrieben wird nun auf Schiefertafeln, und die Schüler tragen Ärmelschoner. Mit Staunen stellt der Junge ein völlig anderes Verhalten zwischen Knaben und Mädchen fest. Während man in Basel aufs Selbstverständlichste miteinander gesprochen hat, lernt er hier, dass man die Mädchen mit Schneebällen und mit Kies plagt. Den älteren Schülern ist es vorenthalten, zu karisieren. Wenn das Mädchen eine Anfrage positiv beantwortete, trifft sich der Junge mit ihm an einem heimlichen Ort. Gemeinsam spielen sie miteinander ein harmloses, wenn auch reizvolles Spiel. Man frotzelt, schubst sich gegenseitig und probiert schon einmal die Wirkung heikler Wörter wie „küssen“ oder „vögeln“ aus.
Bald folgt man dem Autor staunend auf seinem unkonventionellen Lebensweg, bald hofft man, dass er endlich seinen Weg finde. Aber das dauert. Seine Idee, Schauspieler zu werden, gibt er auf und wendet sich dem Schreiben zu. Mit grösster Selbstdisziplin macht er sich ans Werk. Dabei ist ihm der Austausch mit dem Schriftsteller Max Voegeli eine grosse Hilfe. Wenig erfolgreich ist er lange Zeit in Liebesfragen. Nach einer grossen Enttäuschung scheut er vor weiteren Beziehungen zurück, einerseits, weil er fürchtet, die Gründung einer Familie würde seine Entwicklung zum Schriftsteller hemmen, andererseits aber auch, weil er Angst hat, erneut verlassen zu werden. Es sei verraten, dass er dann doch eine treue Freundin – ausgerechnet eine Schauspielerin aus einer Schauspielerfamilie – findet. Damit endet die Autobiografie.
Auch wenn die Bezeichnung „Roman“ unmissverständlich darauf hinweist, dass das Buch das Leben des Autors nicht 1:1 wiedergibt, weist vieles auf Christian Hallers eigene Biografie hin. Es ist für Leserinnen und Leser ungemein spannend, den Werdegang eines Autors zu verfolgen. Der Genuss ist umso grösser, weil er das mit so vielen Details und erst noch in einer äusserst disziplinierten Sprache schafft. Christian Haller erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der darum ringt, sich aus den Fesseln eines übermächtigen Elternhauses zu befreien. Man atmet richtig auf, wenn er auf Seite 234 festhält: „Ich brach den Kontakt zu meinen Eltern ab.“ Nun kann sein wirkliches Leben beginnen Christian Haller legt einen Roman vor, den man mit grossem Gewinn liest.
Feldmeilen, 6.11.2015