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Blitzgewitter

Eine kurze Geschichte des Lichts, in das wir uns stellen


Licht ist so selbstverständlich wie Luft und Wasser. Am Tag ist es allgegenwärtig, in der
Nacht holen wir es mit Kerzen und Lampenin die Räume. Was aber ist Licht? Aus was besteht es und wie setztes sich zusammen? Die Fragen beschäftigte die Menschen seit der Renaissance. Die Sonne war zum Mittelpunkt des Kosmos geworden, und man experimentierte mit der Camera obscura, mit Spiegeln und Prismen, nahm sich den neuen Kosmos zum Modell gesellschaftlichen Lebens und stellte sich vor Fotokameras. Doch bei all der Beschäftigung, wusste man noch immer nicht, was das Licht wirklich ist. In seinem tiefgründigen Essay führt uns Christian Haller durch die Jahrhunderte in die Gegenwart. Heute kennen wir die Antwort, und sie stiess die Tür zur Quantenphysik auf. Durch deren Anwendung betreten wir virtuelle Räume, bestrahlt von Licht, von dem wir endlich wissen, was es ist. Doch wissen wir auch, welche Konsequenzen dieses Wissen hat?

 

 

Die Zeit, 22. 12. 22

Blitzgewitter":Das Licht, in das wir uns stellen

Von der Camera obscura bis ins Metaverse: Christian Haller hat eine Geschichte des Lichts geschrieben und darüber, wohin diese ewige Faszination die Menschen geführt hat.

Eine Rezension von Claas Oberstadt

Das Licht, in das wir uns stellen

Während es draußen jetzt mitten am Tag dunkel wird, erleuchten drinnen Lichterketten und Kerzen die Wohnzimmer. Bald ziehen zur Neujahrsfeier Raketen ihre Leuchtbahnen durch die tiefschwarze Nacht, um der Dunkelheit mit einem Knall und Funkenregen zu trotzen. Begleitet werden sie häufig von gezückten Smartphones, welche die Freude – gleich ob als Weihnachtsgruß im Strickpullover oder als neujährliches Prosecco-Partyselfie – in die Welt senden. Alle Jahre wieder, könnte man meinen, wird so auch das Licht selbst gefeiert. Passenderweise legt der Schriftsteller Christian Haller nun eine kurze Geschichte des Lichts vor, die als Tour de Force durch die Jahrhunderte führt.

In schillernden Miniaturen reist er zu den kosmischen Vorstellungen der Antike, gewährt einen Blick in die Experimentierzimmer der Renaissance, blickt auf um sich selbst kreisende Sonnenkönige und starrt mit Lichtforschern in die Sonne, die beinahe ihr Augenlicht opferten, bei dem Versuch, zu verstehen, was es mit diesem Licht genau auf sich hat. Dabei bleibt Blitzgewitter – so heißt der dünne Band – nicht in samten umhüllten Studienzimmern der frühen Neuzeit stehen. Haller verfolgt das Licht wie ein Strahlenfänger mit Einweckglas durch die Jahrhunderte, über das Doppelgespann von Relativitätstheorie und Quantenphysik hinweg bis in die vernetzte Inszenierungsmaschinerie gegenwärtiger sozialer Medien. So verflechten sich Technikgeschichte mit menschlicher Selbsterkundung, physikalische Erkenntnisse mit philosophischen Gedankenspielen zu einem dichten erzählerischen Netz, das nicht weniger versucht einzufangen als das Licht selbst. So alt die Frage nach dem Licht, so frisch und kurzweilig wirken die Einblicke dank ihrer aphoristischen Knappheit und sprachlichen Klarheit.

Haller führt gleich zu Beginn in Dantes Göttliche Komödie, wo man aus dem tief in die Erde gehauenen Höllentrichter hinauf zum lichtdurchfluteten, irdischen Paradies geleitet wird. Durch eine Welt, in der, wie der Autor erklärt, das Licht noch den Blick Gottes verkörperte – "ein tastender Blick, der nach antiker Auffassung Häutchen um Häutchen vom Menschengetriebe ablöste und zu einem Buch aller Verdienste und Verbrechen band". Nichts blieb ungesehen vor diesem göttlichen Licht, die abgetrennten Lichthäutchen "füllten die Archive für den Jüngsten Tag". Vor dem Licht, hier noch göttlicher Strahl, konnte der Mensch keine noch so versteckte Geistesregung schützen.

Längere Arbeitszeiten durch die Erfindung der Glühbirne

Bald darauf nimmt man mit den Augen der Renaissance den Horizont in sich auf. Das Schauen, so die Vorstellung, glich einer Camera obscura, bei der Lichtstrahlen durch eine Linse in eine dunkle Box geführt werden, womit das Äußere spiegelbildlich im Inneren erscheinen kann. Mehr als nur technische Spielerei veränderte die Apparatur, die als kleine Box, aber auch in hüttengroßer Anfertigung zu haben war, den Blick auf das Sehen. Die Camera obscura avancierte beim Philosophen John Locke gar zur Metapher des menschlichen Bewusstseins selbst: "Denn meines Erachtens ist der Verstand gar nicht so unähnlich einem Zimmer, das gegen das Licht vollständig abgeschlossen ist und in dem nur einige Öffnungen vorhanden sind, um äußere, sichtbare Abbilder oder Ideen von den Dingen der Umwelt einzulassen."

Bei so viel aufklärerischer Lichttrunkenheit, die auch ihre kolonialen Schattenseiten hatte, wie Haller betont, springt die Geschichte zur Erfindung der Glühbirne. Mit ihr gelang das Unvorstellbare: Licht in blitzende Kugeln einzufangen, welche die Straßen illuminieren oder pompös Hotels beleuchteten konnten. So sorgte die Glühlampe für Freudentaumel, aber auch für verlängerte Arbeitszeiten, war nun die Dunkelheit eben kein Grund mehr dafür, die Arbeit niederzulegen und sich in den Feierabend zu verabschieden. Mit der Elektrizität kam zudem das "Unverständliche in den Alltag", was aber nicht zu Bescheidenheit, sondern zur Selbstüberhöhung des westeuropäischen Menschen aufgrund des technischen Fortschritts verleitete: "Er fühlte sich historisierend als neuer 'Renaissencemensch', als ein 'deus technicus', allen Geschöpfen überlegen, berufen andere Kulturen und Länder zu beherrschen." Besonders das aufsteigende Bürgertum wollte sich und den hell ausgeleuchteten Salon nun vorzeigen. Mit der folgenden Erfindung der Fotografie eröffnete sich die Möglichkeit, in feiner Sonntagskleidung vor Säulenimitat, neben Vase und Kübelpalme abgelichtet zu werden. Das Licht konnte zum ersten Mal gebannt, ja gebändigt werden auf einem Trägermedium.

Eine neue Idee davon, was die Welt im Innersten zusammenhält

Die objektivierte Repräsentation der gesellschaftlichen Stellung ließ man auf Karton ziehen und konnte sie als Visitenkarte verteilen. So ins Licht gestellt, formten die technischen Möglichkeiten auch das Selbstbild, und die Begeisterung trieb wiederum die technische Entwickelung in der Fotografie an. Und doch blieb weiterhin unklar, woraus dieses Licht, worein sich die Menschen stellten, genau bestand. Die Physik sollte Abhilfe schaffen: "War das Licht – dieser einstmals göttliche, später vernünftige Strahl – als ein chemisches Stoffgemisch vermutet und aus Korpuskeln bestehend oder Wellen in einem Äther erklärt worden, führten die Experimente infolge der Quantentheorie zu einer gänzlich anderen Auffassung von dem, 'was die Welt im Innersten zusammenhält'." Die revolutionäre, für manche wohl enttäuschende Antwort kam im Gewand eines klassischen Sowohl als auch: Man fand anhand des berühmten Doppelspaltexperiments heraus, dass das Licht sich sowohl wie eine Welle als auch wie ein Teilchen verhielt. Mit der Quantenmechanik sieht Haller nun die Tore weit geöffnet für allerhand technische Revolutionen: die digitale Bild- wie Tonerzeugung, die Pixel in unseren Computern und Smartphones, die uns täglich entgegen strahlen – gesteuert nach quantenmechanischen Prinzipien.

"Wir sind Meister der Brüche"

Dass dabei die Technik keineswegs als neutrales Instrument zu verstehen sei, die Technik vielmehr fordert, angewendet zu werden und gleichsam den Menschen anwendet, indem sie ihn zum Anwender formt, betont Haller mit Blick auf die wuchernden digitalen Möglichkeitsräume. Wie schon die Laterna magica, eine Frühform des Diaprojektors, die Zeitgenossen verzückte, prägen auch heute die mit Licht spielenden Technologien die Art, wie wir uns selbst verständlich werden oder bisweilen unverständlich bleiben. Besonders das digitale Bild lässt tief in die virtuellen Welten blicken: Anstelle fester Abbilder, wie der bürgerlichen Visitenkarte zur Anfangsphase der Fotografie, erlangt das Ich in der digitalen Realität allein Bedeutung durch den sich stetig verändernden Kontext, indem es sich bewegt, meint Haller: "Wir sind Meister der Brüche: Zeige ich mich einmal in einer Gartenlandschaft, naturverbunden, den Kräutern geneigt, kann ich mich durch simplen Bildwechsel ein andermal als urbanen Szene-Crack in Großstadtschluchten präsentieren."

In diesem bildlichen Kontext – ich im Garten – sieht Haller ein kurzes Versprechen auf Halt. "Deshalb muss ich stets neu versuchen, in die Bilder zu kommen, muss selbst im Bild sein, denn nur dort bin ich wer, wenn auch nur kurzfristig", schreibt er. Den bekannten Vokabeln der Aufmerksamkeitsökonomie folgend, wo nicht länger der Zugang, sondern Aufmerksamkeit selbst zur knappen Ressource wird, weist Haller in eine sich stetig beschleunigende Zukunft, in der wir danach streben, noch letzte, ebendiese temporären Inseln der Festigkeit für uns behaupten zu können, um in dem Fluss von Daten und Bildern um uns her – und bald auch im Metaverse, wie Haller schwant – wenigstens etwas Halt entgegenzusetzen.

Ob wir uns tatsächlich in der Zukunft im Metaverse unter einem digitalen Weihnachtsbaum versammeln, bleibt wohl ungewiss. Bis es so weit ist, kann man bei der Lektüre des so sprunghaften wie gedankenreichen Essays das Licht verfolgen, wie es beständig den Blick auf uns selbst formt, auf die Art, wie wir uns auf uns selbst beziehen und in Verhältnis zueinander setzen. Dabei kann man sich mit dem obligatorischen Weihnachtsselfie oder dem neujährlichen Partybild einfügen, in die lange Geschichte der Faszination, die vom Licht ausgeht und womöglich ein wenig Ruhe, vielleicht sogar kurzen Halt finden, bevor das neue Jahr an die Tür klopft.

Christian Haller: "Blitzgewitter". Matthes und Seitz, 108 Seiten, 12 Euro

 

Infosperber, 27. 4. 2023

Physik und Phantasie

 Christian Haller befasst sich in einer Novelle und in einem Essay mit den Folgen der modernen Physik.

Felix Schneider

«Blitzgewitter» heisst Hallers Essay (erschienen bei Matthes & Seitz, Berlin 2023). «Blitzgewitter» erlebe ich heutzutage vorwiegend in der Pariser Métro. So vielfältig dort die Fahrgäste erscheinen – divers hinsichtlich Hautfarbe, Herkommen, Klasse, Alter, Geschlecht, Outfit – fast alle konzentrieren sich, oft mit Stöpseln in den Ohren, auf ihre Handys. Und wenn ich auf einen ihrer kleinen Bildschirme schiele, wird mir schwindlig ob des Tempos, in dem dort ein Finger sekundenschnell neue Bilder zum Aufblitzen bringt.

Was Realität ist, bestimme ich

In Hallers Essay entdecke ich zu meiner Verblüffung, dass die Erfindung der Perspektive in der Malerei der Renaissance verstanden werden kann als allerersten Schritt auf dem langen Weg in die Virtualität von heute, denn die Perspektive ist die erste, gezielte Täuschung des Sehens. Hallers «Geschichte des Lichts, in das wir uns stellen», so der Untertitel des Essays, kann man lesen als eine Geschichte der optischen Wahrnehmung und der Bildproduktion. Enthüllt wird dabei der zunehmende subjektive Anteil des Beobachters bei der Herstellung sowohl von inneren Bildern im Gehirn als auch von äusseren auf Leinwand, Papier oder Bildschirmen. Am Beginn der Neuzeit steht die Auffassung, die Welt sei ebenso objektiv gegeben wie ihr Abbild in der Camera obscura, das unbeeinflusst vom Betrachter nur vom Licht selbst erzeugt sei. Verunsicherung schafften dann später die Nachbilder auf der Netzhaut. Sie waren offensichtlich vom Betrachter erzeugt. Und Goethe fand die Formulierung: «Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken». Im 19. Jahrhundert wird klar, dass unsere Nerven nicht blosse Leiter sind.  Angeregt von äusseren Impulsen bringen sie vielmehr ihren eigenen Zustand ins Bewusstsein. «Wir empfinden nicht das Messer, das uns Schmerz verursacht, sondern der Zustand unserer Nerven ist schmerzhaft.» (Johannes Müller, Physiologe). Und heute? Das digitale Bild ist streng genommen kein Abbild mehr, es ist eine Lichtrechnung. Deswegen kann ich mit dem Handy im Dunkeln fotografieren, kann Belichtung, Farben und Formen ändern, Störendes entfernen, und alles wieder in das ursprüngliche Bild zurückrechnen. Ich erinnere mich an den Lehrer in der Londoner Volkshochschule, der das Bildbearbeitungstool «Photoshop» erklärte und uns zur Übung ein Foto der Themse bearbeiten liess. Wir lernten Schiffe entfernen, dazusetzen, verändern. Auf meine Frage, was mit der Realität sei, antwortet er: Das bestimmen Sie.

Ein tollkühnes Unternehmen

Die hier herausgelesene Entwicklung der Bildproduktion ist bei Haller eingebettet in eine Geschichte der europäischen Weltbilder und Gesellschaftsformationen von der Renaissance über den Absolutismus und das bürgerliche Zeitalter bis in die Gegenwart. Ihn interessiert, wie die Wissenschaften, insbesondere die Physik, die menschlichen Vorstellungen von Natur und Gesellschaft ebenso wie die wirkliche soziale Organisation der Menschen beeinflussen. Das ist ein geradezu tollkühnes Unternehmen. Auf gerade mal hundert kleinen Seiten stürmt Haller durch 600 Jahre europäischer Geschichte. Seine Methode: viel lesen, viel denken – und wenig schreiben. Seine Sprache:  knapp, klar, elegant, kräftig. Er erreicht eine wundersame Leichtigkeit, bereitet grosses Lesevergnügen. Wie in einem Spiel erschliesst sich ein Stück Weltgeschichte.

Das Ich von heute

Kopernikus, Kepler und Galilei brachten die alte Ordnung nicht nur im Weltall zum Einsturz, sondern auch auf Erden. Die moderne Entwicklung, die damals ihren Anfang nahm, hat zur heutigen  Quantenphysik geführt. Diese uns verständlich zu machen, versucht Haller erst gar nicht. (Wer will, kann sich im Netz anzunähern versuchen.) Er konzentriert sich darauf, dass eine der handfesten Anwendungen der Quantenphysik, nämlich die digitale Bild- und Tonproduktion, das Individuum erzeugt, das Haller das «Shifter-Ich» nennt. Ein Shifter ist in der Semiologie, der Zeichenlehre, ein Zeichen, das seine Bedeutung erst aus dem Kontext erhält, wie z.B. «es». Gemeint ist ein Ich, das sich nach den Vorstellungen richtet, die es sich davon macht, was sein jeweiliges Gegenüber von ihm erwartet oder was die jeweilige Situation von ihm verlangt. Dafür braucht es vor allem die Fähigkeit zu situativer Anpassung und zu schnellen Reaktionen.

Neue Horizonte

Im letzten Kapitel wagt Haller einen vielleicht zu kühnen Blick in die Zukunft: wir werden in zwei Welten leben, sagt er, in der analogen und in einer virtuellen, in der es die gewohnte Realität nicht mehr gibt, sondern nur noch vereinzelte, individuelle Wahrnehmungen. Was in der Zeit und im Raum zwischen solchen Wahrnehmungen geschieht, wissen wir nicht: es ist abhängig vom Zufall. Das Ich soll eine «biologische Interpretation» sein, statt Wirklichkeit gibt es «archivierte Schichten» – hier bekennt das schreibende Ich, dass es überfordert ist und skeptisch wird. War nicht auch die Geburt des Internets begleitet vom Versprechen auf die Entstehung von etwas ganz Anderem, nie Dagewesenem? Was ist daraus geworden? Ja, doch, Neues ist entstanden. Aber gleichzeitig haben sich die alten ökonomischen und politischen Mächte mit grausamer Banalität durchgesetzt. Das Netz ist fest im Griff von Grosskonzernen und Diktaturen.

Und die Literatur?

Die Physik kann als Leitwissenschaft des 20. Jahrhunderts gelten. An ihr kommt auch die Literatur nicht vorbei. Am Beginn standen Werke, die sich mit Physiker-Biographien beschäftigten. So erzählte Max Brod 1915 in seinem Roman «Tycho Brahes Weg zu Gott» von der Begegnung der beiden Physiker Tycho Brahe und Johannes Kepler in Prag. Später, insbesondere nach dem Abwurf der ersten Atombombe, wurde der einzelne Physiker eher zum beispielhaften «Fall». Friedrich Dürrenmatts «Die Physiker» und Heinar Kipphardts Schauspiel «In der Sache J. Robert Oppenheimer» fragten in den 60er Jahren nach der Verantwortung der Wissenschaftler und ihrem Verhältnis zur Politik. Brechts Jahrhundertstück «Leben des Galilei» formulierte grundsätzlich die Hoffnungen, Möglichkeiten und Enttäuschungen, die mit dem wissenschaftlichen Fortschritt in der Moderne verbunden waren.

Zwei auf Helgoland

Auch Christian Haller nutzt in seiner Novelle «Sich lichtende Nebel» (Luchterhand 2023)  eine Physiker-Biographie. Er erzählt von der historisch verbürgten Episode, wie sich der junge Physiker Werner Heisenberg 1925 wegen eines Heuschnupfens nach Helgoland zurückzog und dort unter vielfachen Geburtswehen die entscheidende Schrift zur Begründung der Quantenmechanik verfasste, «DER», wie es uns eine Helgoländer Gedenktafel verkündet,  «GRUNDLEGENDEN THEORIE / DER NATURGESETZE / IM ATOMAREN BEREICH, / DIE DAS MENSCHLICHE DENKEN / WEIT ÜBER DIE PHYSIK HINAUS / TIEFGREIFEND BEEINFLUSST HAT.» Kapitelweise abwechselnd, erzählt Haller aber auch von einer zweiten Figur: dem pensionierten, verwitweten Historiker Helstedt, der, um mit dem Leben im Alter fertig zu werden, zu schreiben anfängt.

Im Dunkeln sehen wir nichts

Zwei starke Bilder bleiben nach der Lektüre der Novelle im Gedächtnis. Beide illustrieren Grundzüge der Quantenphysik. Zu Beginn der Erzählung beobachtet der junge Physiker nachts einen Passanten, der im Lichtkegel einer Laterne erscheint, dann im Dunkeln verschwindet, und im Licht der nächsten Laterne wieder auftaucht. Die grosse Frage: Was weiss der Beobachter von dem Passanten in der Zeit, während er im Dunkeln verschwunden ist? Antwort: nichts. Der Passant  könnte stehen bleiben, umkehren, sterben… Auch die Physiker erhalten von den kleinsten Teilen der Materie nur lückenhafte Informationen. Sie tauchen an unvermuteten Stellen auf – und was zwischen den Momenten ihres Erscheinens geschieht, wissen wir nicht.

Was ist Materie?

In unvorstellbarer Weise sind die Physiker zur Annahme gezwungen, dass die Materie gar nicht aus festen Teilen besteht, sondern aus Energiezuständen. Heisenberg ringt in der Einsamkeit seiner Klause auf Helgoland mit dem Versuch, solche Sachverhalte zu erfassen. Helstedt, Hallers rein fiktiver zweiter Protagonist, hat zu seiner eigenen Verblüffung plötzliche Halluzinationen: er sieht die Gegenstände seiner Umgebung als leuchtende, brennende Bewegungen.

Beengend, aber vertraut

Der Literaturkritiker Paul Jandl hat in seiner NZZ-Rezension von Hallers Novelle Heisenberg zur Hauptperson der Erzählung erklärt, während er Helstedt als dessen Gegenfigur sieht, die sonderbare Visionen hat und sich selbst verliere. Hallers Hellstedt hat dem Kritiker eigentlich schon geantwortet, denn er sagt einem Freund: Du möchtest, dass die Welt so angenehm eingerichtet ist wie deine Wohnung: «gleichbleibend, mit definierten Orten für jedes Ding, vollgestellt, beengend, vertraut» (S.117). Eine freiere Lektüre könnte wahrnehmen, dass der junge Wissenschaftler und der alte Professor, einander ebenbürtig, in zwei verschiedenen Sprachen, der Sprache der Mathematik und der Sprache der Phantasie, versuchen, das unbekannte Neue einzukreisen. Helstedt bemerkt bald, dass auch er selbst Teil dieser neu entdeckten, wunderbar seltsamen Ordnung ist, und er empfindet dabei, von Haller zart angedeutet, einen unverhofften Trost. Vielleicht kann er, wenn es ans Sterben geht, in diese grössere Ordnung eintreten.

Ruhig aber packend ist Hallers Sprache. Unmodisch aber zeitgenössisch sein Thema. Individuell profiliert, aber zur Identifikation einladend sind seine Figuren. Hallers Novelle ist ein Meisterwerk.

 

Hans Ulrich Probst in der Wochenzeitung WOZ:

Blitzgewitter ist ein wahrlich wagemutiger Versuch auf kaum hundert Seiten, bleibt aber trotz hoher Komplexität und unvermeidlicher Verkürzungen bestens lesbar, denn auch für dieses Vorhaben findet Haller eine geschmeidige, glasklare Sprache.

 

Manfred Papst in der NZZ am Sonntag, Bücherbeilage

Das grosse Ganze denken

Wer sich mit Hallers Novelle «Sich lichtende Nebel» beschäftigt, liest mit Gewinn auch seinen fast gleichzeitig erschienenen Essay «Blitzgewitter». In ihm schreibt der Autor eine «kurze Geschichte des Lichts, in das wir uns stellen» (so der Untertitel), und geht der Frage nach, wie sich unsere Lebenswelt durch die Digitalisierung verändert hat. Er zeichnet die Entwicklung des wissenschaftlichen Verständnisses von Licht und Bildproduktion nach und beleuchtet die physikalischen Aspekte der Frage ebenso wie die philosophischen, soziologischen und politischen.

Dabei geht er zurück bis ins Mittelalter; er skizziert die Wandlung vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild, zeigt, wie das sich seiner selbst bewusst werdende Subjekt in der Renaissance auf den Plan tritt und wie die Aufklärung sowie die modernen Naturwissenschaften, allen voran die Physik, die Wahrnehmung und die Deutung der Welt verändert haben. Dabei weist er auch hier der Quantenmechanik Heisenbergs eine Schlüsselrolle zu. Mit dem Mut zur Verkürzung und zur scharfen Konturierung erweist sich Haller, der in jungen Jahren an der Universität Basel Zoologie studiert hat, als origineller, kantiger Kopf, der das Denken weder delegiert noch in ein Referenzsystem von fachspezifischen Autoritäten einpasst, sondern das grosse Ganze als Einzelner nochmals von Grund auf zu denken versucht. Das mag man als unzeitgemäss empfinden; es ist indes originell und gelungen. Der klar aufgebaute Text mit seinen 133 kurzen Paragraphen ist zudem auch von literarischem Reiz.

Beiden Büchern, der Novelle und dem Essay, ist gemeinsam, dass sie die «Ordnung der Dinge» mit der fragilen Schönheit der gefährdeten und vergänglichen Welt in eins denken. Im Schauen liegt für den alten Helstedt am Ende das Glück: Mit versonnenem Lächeln nimmt er einen Schluck aus der Kaffeetasse.