Werke & Presse

Vorschautext

Kopenhagen 1925: Ein Mann taucht im Lichtkegel einer Laterne auf, verschwindet wieder im Dunkel und erscheint erneut im Licht der nächsten Laterne. Wo ist er in der Zwischenzeit gewesen? Den Beobachter dieser Szene, Werner Heisenberg, führt sie zur Entwicklung einer Theorie, die im weiteren Verlauf ein völlig neues Weltbild schaffen wird: die Quantenmechanik. Der Mann im Dunkel selbst hingegen weiß nichts von der Rolle, die er bei der Entdeckung neuer physikalischer Gesetze gespielt hat – er versucht, den Verlust seiner Frau zu verarbeiten und seinem Leben eine neue Ausrichtung zu geben. Christian Haller, der diese beiden durch den Zufall verknüpften Lebenslinien weiter erzählt, macht daraus ein hellsichtiges literarisches Vexierspiel über Trauer und Einsamkeit, die Grenzen unserer Erkenntnis und die Frage, wie das Neue in unsere Welt kommt.

Das ist ein grossartiges Buch. Ein Meisterwerk.

Usama Al Shahmani, Literaturclub SRF, 7.3.23


NZZ, 28. 02. 2023

Philosoph der Unsicherheit

Das Ungewisse lockt ihn: Der Autor Christian Haller wird 80

Paul Jand

Literatur ist manchmal paradox. In allergrösster Präzision beschreibt sie das Ungefähre. In Christian Hallers neuester Novelle, «Sich lichtende Nebel», geht ein Mann durch das nächtliche Kopenhagen. Er verschwindet im Dunkel, wenn er den Lichtkegel einer Strassenlaterne verlässt. Gehend taucht er im Schein der nächsten Lampe auf, bis er wieder unsichtbar wird. Was ist im Dazwischen? Was genau sehen wir, und warum glauben wir an eine Wirklichkeit, deren Zusammenhänge sich erst in unserem Kopf herstellen?

 

Christian Hallers Geschichte treibt ein philosophisches Spiel, in dem vieles nicht ist, was es scheint. Tatsachen und Einbildungen überlagern einander. Kaum mehr als 120 Seiten braucht die Novelle, um einen grossen Bogen vom nächtlichen Kopenhagen der zwanziger Jahre bis zur Quantenphysik zu schlagen.

 

Der Mann, der da durch die Strassen geht, ist ein gewisser Herr Helstedt, pensionierter und verwitweter Geschichtsprofessor. Sein Beobachter ist ungleich berühmter und jedenfalls auch ausserliterarisch verbürgt: der Physiker Werner Heisenberg. 1925 besucht der junge Heisenberg den dänischen Kollegen Niels Bohr. Man debattiert, man versteht sich, aber da kündigt sich gerade ein schlimmer Heuschnupfen an. Der Rest ist tatsächlich Geschichte: Heisenberg lindert seine Allergien in der Meeresluft der Insel Helgoland. Weil er genügend Zeit hat und die Gedanken zu schweben beginnen, gelingt es ihm, seine revolutionären Erkenntnisse zur Quantenmechanik zu formulieren.

An den offenen Enden

Christian Hallers Novellen-Titel «Sich lichtende Nebel» ist meteorologischer Befund und Metapher zugleich: Auf Helgoland reisst der Himmel auf. Für die Physik öffnet sich der Blick bis tief in die Sphäre des Atomaren. Die physikalische Moderne des 20. Jahrhunderts beginnt.

Wenn der heute achtzigjährige Christian Haller als Autor immer noch nicht ausreichend gewürdigt ist, dann liegt das vielleicht an einer schreiberischen Konstitution. In seinem Werk fehlt der Gestus der Selbstgewissheit. Seine Bücher sind keine Behauptungsliteratur, sondern sie widmen sich der Wirklichkeit in einem Näherungsverfahren. Hallers grosse literarische Selbsterforschungen wie die «Trilogie des Erinnerns», der Roman «Im Park» oder die späteren, an der Aare spielenden autobiografischen Romane handeln von Ambivalenzen, von den offenen Enden der Realitätserfahrungen.

«Sich lichtende Nebel» bringt diese Poetologie des Autors noch einmal auf den Punkt: Aus dem Nebel des Nichtwissens führt die Physik als Wissenschaft heraus, aber was ist der atomare Kern des Menschen selbst? Während Werner Heisenberg etwas findet, beginnt sich Hallers Gegenfigur Helstedt immer mehr zu verlieren. Im Gespräch mit seinem rationalistischen Freund Sörensen versucht er plötzliche sonderbare Wahrnehmungen zu enträtseln, erntet aber nur Spott.

 

Geistig-seelisches Drama

Helstedt hat das Gefühl, in die Materie um sich herum hineinschauen zu können. Er sieht die Kräfte gegenseitiger Anziehung und Abstossung. In den Dingen erkennt er «bewegte Zustände». Sein Blick ist plötzlich wie der eines Physikers, der selbst zum Instrument seiner Wissenschaft geworden ist. In dieser erschöpfenden Erfahrung gerät alles ins Wanken. Der alte Geschichtsprofessor versucht eine Sprache für das Gesehene zu finden, aber wo für Heisenberg die Unschärfe zum Kern der Entdeckung wird, weiss der Geschichtsprofessor nicht weiter.

Es ist ein geistig-seelisches Drama, das Christian Haller ins milde Licht des Mitgefühls taucht. Der Schweizer Schriftsteller bleibt auch mit seinem neuen Buch der Philosoph einer existenziellen Unsicherheit: Statt Klarheit über sich und die Welt zu erlangen, wandelt der Mensch in Nebelkammern. In seinem inneren Helgoland bleibt ihm nichts anderes übrig, als auf Sicht zu gehen.


Aargauer Zeitung, Donnerstag, 17. 2. 23

Die Sinne, der Verstand und das Licht

Christian Hallers Novelle «Sich lichtende Nebel» oder Die vermeintliche Klarheit der Unschärferelation

Markus Bundi

Warum lassen sich der Radrennfahrer auf seiner halsbrecherischen Abfahrt und der Hintergrund der alpinen Landschaft nicht zugleich, sprich auf einem Bild, scharf ablichten? – So oder so ähnlich lautet die Einstiegsfrage des Physiklehrers, wenn er seine Klasse auf Heisenbergs «Unschärfe-Relation» einstimmen will. So unsexy Physikunterricht auch immer sein mag, ohne die Formeln, auf die zum Beispiel Albert Einstein (1879–1955) oder Werner Heisenberg (1901–1976) gekommen sind, gäbe es die Technologie von heute nicht.

Die mathematischen Gleichungen, die Wahrscheinlichkeitsrechnungen, die uns den Zugang zum Mikrokosmos (und darüber hinaus) ermöglichen, das sind mit Sinnlichkeit aufgeladene Quantensprünge. Das weiss einer, der sich in jungen Jahren den Naturwissenschaften verschrieben hatte, im Grunde seines Herzens aber schon immer Schriftsteller war: Christian Haller (*1943), der Zoologie in Basel studierte, dessen literarisches Œuvre mittlerweile auf zehn Romane, mehrere Gedichtbände, Dramen und Essays angewachsen ist, entführt seine Leserinnen und Leser diesmal – auf Helgoland.

Das ist diese kleine Insel, die ziemlich verlassen in der Nordsee steht, zu erreichen mit der Fähre von Cuxhaven aus. Gut erschlossen, mittlerweile, für den Tourismus offen, gut gelegen schon vor hundert Jahren für Allergiker, da sich der Pollenflug aufgrund der kargen Vegetation arg in Grenzen hält. Und das ist auch einer der Gründe, warum sich der Protagonist in Hallers Novelle «Sich lichtende Nebel» im Jahr 1925 zu einer Überfahrt entschliesst.

Der junge Mann, Gast am Kopenhagener Physikinstitut, leidet indes nicht nur an Heuschnupfen, sondern auch an Berechnungen zu den Umlaufbahnen von Elektronen. Es ist höchste Zeit, den Kopf wieder freizukriegen, zumal ihn eine nächtliche Beobachtung seinerseits aus der Bahn geworfen hat. Selbstvergessen sass er auf einer Bank hinter dem Institut und sah, wie ein Mann im Lichtkreis einer Strassenlaterne erschien, verschwand und wenig später unter der nächsten Laterne wieder auftauchte. Wo war der Gehende in der Zwischenzeit? Über den Aufenthaltsort des andern im Dunkeln gibt es keine Gewissheit.

Dass es sich beim «Beobachter», so wird der junge Physiker genannt, um die historische Figur Werner Heisenbergs handelt, wird von Haller bereits im Motto zur Novelle angezeigt: «Beim Aufstieg hatte sich der Nebel immer dichter um unseren enger werdenden Pfad geschlossen ...». Der angefangene Satz stammt tatsächlich von Heisenberg und rekurriert auf eine Wanderung mit seinem dänischenMentor – hinter dem sich also kein geringer als Niels Bohr verbirgt, der 1922 den Nobelpreis für Physik erhielt.

Und der Beobachtete? – Fraglos ein Statist, der in den Augen Heisenbergs zufällig zum corpus delicti wird. Könnte man meinen. Im Gegensatz zum Physiker lässt der Schriftsteller den älteren Mann nicht aus dem Blick, kürt ihn stattdessen zur zweiten Hauptfigur. Der von Laternen Beleuchtete, das ist Helstedt, emeritierter Geschichtsprofessor, der nachts auf seinem Nachhauseweg war. Seiner akademischen Pflichten entledigt und Wittwer, ernährt sich Helstedt mehr schlecht als recht, liest nur noch wenig, hält sich an einen missliebigen alten Freund, beschränkt sich ansonsten aufs Schauen und Schlafen: «Nein, er wusste nicht, wo er war und hatte auch kein Ziel. Ausser vielleicht zu schauen. Was immer er ansah, bekam einen kristallenen Glanz und war von einer leuchtenden Schönheit.» Und was der hellsichtige Historiker da träumte, wird alsbald Wirklichkeit sein.

Während Helstedt darüber nachdenkt, «dass Träume in einer seltsamen Asymmetrie zum Alltagsleben» stehen, erholt sich Heisenberg auf Helgoland und beobachtet, wie der Nebel «in langen Bänken vom Meer gegen die Insel» treibt. Mit anderen Worten: Hallers Novelle ist als virtuose Tandem-Geschichte angelegt; im Leben beider lichtet sich allmählich der Nebel. Die jeweiligen Erkenntnisse gehen dabei weit übers Palindrom hinaus. Heisenberg macht die Bekanntschaft mit seiner Gastgeberin auf Helgoland, Helstedt verguckt sich in Linn, die ihm als Adressatin für seine Aufzeichnungen dient: «... was ich sah, waren blau strahlende Energiezustände – wobei das Wort ‹Zustände› falsch ist. Diese ‹Energiezustände› waren nicht statisch, wie die Wortbedeutung nahelegt, sondern in beständiger Bewegung, allerdings je nach Gegenstand oder Material langsamer oder schneller, kaum wahrnehmbar in den Wänden, gut sichtbar in den Gardinen, schnell in den Ästen und Blättern.»

Die Sinne von Helstedt und der Verstand Heisenbergs führen zu Überblendungen, die sich einer exakt zu berechnenden Welt entgegensetzen. Die Unschärfe, die der Physiker letztlich in eine mathematische Matrix giesst, lässt den Historiker die Grenze zwischen Leben und Tod überwinden. Wahrlich unerhörte Ereignisse, wie sie schon nach Goethes Dafürhalten eine Novelle auszeichneten! Und was die Wechselwirkung zwischen Wahrscheinlichkeit und Wahrhaftigkeit betrifft, da ist Christian Haller mit «Sich lichtende Nebel» ein kleines Meisterwerk geglückt.

 

Klosterzeitung Salve, März 2023

 Bruder Gerold Zenoni

Christian Haller gestaltet mit den Schauplätzen Kopenhagen und Helgoland souverän einen literarischen Parforceritt zu den Grenzen menschlicher Erkenntnis, mal statisch geerdet dann wieder luzid in Spähren geahnter Möglichkeiten.

FAZ, 28.2.2023

Im Bergwerk der Sprache

Christian Haller zum Achtzigsten

Kurt Drawert

Seit Annie Ernaux den Nobelpreis für Literatur bekommen hat, ist autofiktionale Prosa fast etwas Mode geworden. Vor allem im deutschen Sprachraum drängen Bücher auf den Markt, deren Erzählfigur vorgibt, mit dem Verfasser identisch zu sein. Das mag einem Verlangen nach Authentizität zu entsprechen, zumal vor dem Hintergrund sich aufdrängender Simulationsrealitäten, die unser Leben immer radikaler beherrschen. Dabei ist das Motiv, das eigene Selbst zu einem Objekt der Reflexion werden zu lassen und die subjektive Erfahrungsgeschichte zu einem Erzählgegenstand, so alt wie die Literatur seit Augustinus von Hippo. Es überrascht also, wenn es bisweilen noch überrascht; denn wer könnte geeigneter sein, exemplarisch auf die Geschichte der Welt zu verweisen und im Mikrokosmos der familiaren Herkunft auf das Wesen einer Epoche, wenn nicht das sich seiner selbst bewusste Subjekt? Das immer wieder literarisch zu thematisieren und gegen oft heftige Widerstände durchzusetzen, ist der Werdegang des Schweizer Schriftstellers Christian Haller. Geboren 1943 in Brugg, Kanton Aargau, studierte er Zoologie in Basel, arbeitete als Bereichsleiter der „Sozialen Studien“ am Gottlieb Duttweiler Institut und als Dramaturg eines Theaters in Baden, ehe er sich als Schriftsteller selbstständig machte. Seitdem gibt es fast zwei Dutzend Bücher von ihm, die von ihrer Intention und innersten Notwendigkeit her obsessiv um ein und dieselbe Frage kreisen: Wer ist „ich“, wenn ein Ich „ich“ gesagt hat. Oder einfacher: Was können wir über uns wissen und sagen. Diese Positionsbestimmung in cartesianischer Tradition und eingebunden in die Geschichte der Zeit ist die vielleicht entscheidende für unsere digitale Moderne, in der sich das Subjekt selbst aus dem Weg räumt: Wer sind wir, wer waren wir, wer werden wir sein. Haller fragt genau das immer wieder, erfindet Reflektorfiguren, die „ich“ für ihn sagen wie im dritten Band seiner autobiografischen Prosa, in dem ein Freund es dem Erzähler, der es selbst nicht hervorbringen kann, abnimmt: „Den Boden, den wir nicht gehabt haben, schaffen wir uns selber. Mit Buchstaben und Wörtern, die wir zu Geschichten verfugen, geben wir dem Ich einen Grund, machen das Nichts begehbar und steigen an Orte, wo kein Boden mehr nötig ist.“ Diese literarische Begründungsarbeit ist vor allem mit der Trilogie „Die verborgenen Ufer“ (2015), „Das unaufhaltsame Fließen“ (2017) und „Flussabwärts gegen den Strom“ (2020), aus dem das Zitat stammt, grandios geleistet. Sie steht in einer Tradition zu Entwicklungsromanen wie dem „Anton Reiser“ von Karl Philipp Moritz oder dem „Porträt des Künstlers als junger Mann“ von James Joyce. Nur dass Christian Haller lange warten musste, ehe ihm Anerkennung zuteil geworden ist – unter anderem mit dem Aargauer Literaturpreis 2006, dem Preis der Schillerstiftung 2007 sowie dem Aargauer Kunstpreis 2015. Vorher sah es eher so aus: „Nach zwei, drei Seiten unterbrach mich ein Zwischenruf, ein Zuhörer war im Publikum aufgestanden, rief in den Saal, er protestiere, das sei keine Literatur, die ich da vortrage, das seien Klischees und banale Sätze.“ Und als wäre das nicht schon genug, erhebt sich auch noch ein Mitglied der Programmkommission und entschuldigt sich dafür, ihn eingeladen zu haben. Wer danach noch weiterschreibt, ist, was wir einen Schriftsteller nennen –unermüdlich im Bergwerk der Sprache. Wenn Christian Haller heute seinen achtzigsten Geburtstag begeht, dann liegen auch zwei neue Bücher von ihm vor: „Sich lichtende Nebel. Novelle“, sowie der Essay: „Blitzgewitter. Eine kurze Geschichte des Lichts, in das wir uns stellen.“ Glückwunsch.