In memoriam Shantala Hummler
Buchpreisgewinner oder Autor der Stunde? Am Freitagabend lasen Christian Haller und Leif Randt, zwei Schwergewichte des diesjährigen Programms, zur gleichen Zeit, nur wenige Meter von einander entfernt, im Festivalzentrum Karl der Grosse. Wer sich für den ersten Stock und Christian Hallers Lesung aus seiner Fluss-Trilogie entschieden hatte, wurde mit einer Überraschung empfangen: Den Auftakt machte hier der Nachwuchsautor Tom von Arx mit einer zunehmend absurden Inventur einer Wohlstandsverwahrlosung. Let’s talk about Mehrzweckleitern, trocken geschrieben, hervorragend gelesen vom Autor, der das Publikum als professioneller Sprecher für sich einzunehmen wusste.
Eine gelungene Ouvertüre für Christian Haller, auf den fünf gut gefüllte Reihen fast ehrfürchtig zu warten schienen. Und tatsächlich spielt der 1943 geborene Aargauer, nach Jahrzehnten als Geheimtipp, unterdessen in der Liga derer, von deren Werk etwas bleiben wird. Abgeschlossen ist es allerdings nicht: Nach dem Gewinn des Schweizer Buchpreises 2023 ist im vergangenen Jahr mit Das Institut ein weiterer Schlüsseltext dieses Oeuvres erschienen, das notabene erst in einem Alter verlegt zu werden begann, in dem heutige Autor:innen schon als Stimme ihrer Generation gelten müssen, um von ihren Verlagen über Wasser gehalten zu werden. Darüber hinaus wurden die drei grossen autobiographischen Romane Die verborgenen Ufer, Das unaufhaltsame Fliessen und Flussabwärts gegen den Strom, die Hallers Ruhm in der vergangenen Dekade begründeten, in einem Band wiederveröffentlicht. Um dieses Konvolut soll es heute Abend gehen.
Unter der kundigen Moderation Felix Ghezzis gelingt es Haller schnell, das Publikum für wesentliche Stationen seiner Biographie zu interessieren. Drei treffend gewählte Passagen führen in Krisen, die neue Wege eröffneten, zunächst aber als Totalverluste erlebt wurden. Zwischen dem beinahe vom Rhein fortgerissenen Haus und der mitten im Leben von einem Schlaganfall schwer getroffenen Partnerin, zwischen dem Ende einer Liebschaft und dem neuen Sehen als Lyriker, zwischen dem märchenhaften Vorkriegs-Rumänien der Mutter und der postsozialistischen Realität sucht hier einer „den Weg, den es nicht gibt und den ich dennoch gehen will.“
Dieser Weg, von Haller auch als „Recherche du chemin“ bezeichnet, hat den in Brugg geborenen und heute in Laufenburg nahe der deutschen Grenze lebenden Haller immer wieder an die Ränder geführt. Ränder des Zusammenbruchs, Ränder aber auch, von denen überhaupt erst in jenes Innere zu schauen ist, aus dem heraus so viele zu schreiben glauben.
Hallers Vortrag, aber auch seine Antworten im Gespräch sind geprägt von einer Klarheit des Wortes, die sein Publikum dankbar aufnimmt. Ohne den geringsten Anflug von Verbohrtheit macht Haller deutlich, dass sein Weg genau der seine gewesen ist, dass die konzentrierte Arbeit am eigenen Stoff – „viel Jute, wenig Seide“ – die zwingende Voraussetzung dafür gewesen ist, auch anderen etwas sagen zu können. Eines Tages, nicht sofort, das habe ihm sein früherer Mentor Max Voegeli glücklicherweise schon in jungen Jahren vermittelt.
Stil als Lebensaufgabe, mit diesem Gedanken entlässt Haller sein Publikum in den Freitagabend, wo es sich mit den Strömen aus dem Erdgeschoss zu mischen beginnt. Die Gänge, der Schankraum, der Vorplatz beginnen sich mit jenem angeregten Brummen zu füllen, das die Literaturstadt Zürich leider zu selten vernehmen lässt. Zufriedene Gesichter, gefüllte Beutel, viel Jute, viel Seide. Gefährt:innen, Büchermenschen, Freund:innen, allet jut. Bis auf diese Lücke; unsere Gefährtin, Büchermensch, Freundin, die fehlt.

