Werke & Presse

„Ich gehe den Weg, den es nicht gibt und den ich dennoch gehen will“. Quer durch ein Jahrhundert voller persönlicher wie politischer Erschütterungen findet er zu seinem literarischen Werk: die große autobiografische Trilogie des Schweizer Buchpreisträgers Christian Haller.

DIE VERBORGENEN UFER: Christian Haller erzählt in diesem autobiographischen Roman die Geschichte eines jungen Mannes, der immer nur ausgewichen ist, sich weggeduckt hat vor den großen Erwartungen - in den Freundschaften wie in der Liebe. Der jedoch gerade darin eine Kraft gefunden hat, die ihn weiter tragen wird, als selbst die ihm nahestehendsten Menschen für möglich gehalten hätten.

DAS UNAUFHALTSAME FLIESSEN: Der Erzähler, der immer allen Anforderungen ausgewichen ist, ist nun Anfang zwanzig und auf der Suche nach einem Sinn für sein Leben. Er merkt, dass er sich hinaus in die gesellschaftliche Gegenwart begeben muss. Eher zufällig kommt er an das Gottlieb Duttweiler-Institut bei Zürich, macht Karriere, der Fluss seines Lebens trägt ihn in höchste gesellschaftliche Kreise. Doch mit dem Einblick in die Machenschaften von Politik und Wirtschaft muss er erkennen: Auch dies kann – trotz Aufstieg und Erfolg – nicht sein Weg sein.

FLUSSABWÄRTS GEGEN DEN STROM: Der Damm ist gebrochen, der Fluss des Lebens trägt Christian Haller näher an seine Bestimmung heran. Aus dem jungen Mann, der den Weg suchte, "den es nicht gab und den er dennoch gehen wollte", ist ein Schriftsteller geworden. Er muss kämpfen gegen finanzielle Nöte, gegen Ablehnung und für die Anerkennung seiner Arbeit. Doch schreibend gelangt er an sein Ziel: In der Erkundung seiner rumänischen Herkunft und jener Einschläge des 20. Jahrhunderts, die die Wege seiner Familie bestimmten, tritt allmählich das erzählende Ich hervor. Und mit ihm die Frage, wie der Untergrund des Lebens tatsächlich beschaffen ist.



Christoph Steier

Der Weg, den es nicht gibt

In memoriam Shantala Hummler

Buchpreisgewinner oder Autor der Stunde? Am Freitagabend lasen Christian Haller und Leif Randt, zwei Schwergewichte des diesjährigen Programms, zur gleichen Zeit, nur wenige Meter von einander entfernt, im Festivalzentrum Karl der Grosse. Wer sich für den ersten Stock und Christian Hallers Lesung aus seiner Fluss-Trilogie entschieden hatte, wurde mit einer Überraschung empfangen: Den Auftakt machte hier der Nachwuchsautor Tom von Arx mit einer zunehmend absurden Inventur einer Wohlstandsverwahrlosung. Let’s talk about Mehrzweckleitern, trocken geschrieben, hervorragend gelesen vom Autor, der das Publikum als professioneller Sprecher für sich einzunehmen wusste.

Eine gelungene Ouvertüre für Christian Haller, auf den fünf gut gefüllte Reihen fast ehrfürchtig zu warten schienen. Und tatsächlich spielt der 1943 geborene Aargauer, nach Jahrzehnten als Geheimtipp, unterdessen in der Liga derer, von deren Werk etwas bleiben wird. Abgeschlossen ist es allerdings nicht: Nach dem Gewinn des Schweizer Buchpreises 2023 ist im vergangenen Jahr mit Das Institut ein weiterer Schlüsseltext dieses Oeuvres erschienen, das notabene erst in einem Alter verlegt zu werden begann, in dem heutige Autor:innen schon als Stimme ihrer Generation gelten müssen, um von ihren Verlagen über Wasser gehalten zu werden. Darüber hinaus wurden die drei grossen autobiographischen Romane Die verborgenen Ufer, Das unaufhaltsame Fliessen und Flussabwärts gegen den Strom, die Hallers Ruhm in der vergangenen Dekade begründeten, in einem Band wiederveröffentlicht. Um dieses Konvolut soll es heute Abend gehen.

Unter der kundigen Moderation Felix Ghezzis gelingt es Haller schnell, das Publikum für wesentliche Stationen seiner Biographie zu interessieren. Drei treffend gewählte Passagen führen in Krisen, die neue Wege eröffneten, zunächst aber als Totalverluste erlebt wurden. Zwischen dem beinahe vom Rhein fortgerissenen Haus und der mitten im Leben von einem Schlaganfall schwer getroffenen Partnerin, zwischen dem Ende einer Liebschaft und dem neuen Sehen als Lyriker, zwischen dem märchenhaften Vorkriegs-Rumänien der Mutter und der postsozialistischen Realität sucht hier einer „den Weg, den es nicht gibt und den ich dennoch gehen will.“

Dieser Weg, von Haller auch als „Recherche du chemin“ bezeichnet, hat den in Brugg geborenen und heute in Laufenburg nahe der deutschen Grenze lebenden Haller immer wieder an die Ränder geführt. Ränder des Zusammenbruchs, Ränder aber auch, von denen überhaupt erst in jenes Innere zu schauen ist, aus dem heraus so viele zu schreiben glauben.

Hallers Vortrag, aber auch seine Antworten im Gespräch sind geprägt von einer Klarheit des Wortes, die sein Publikum dankbar aufnimmt. Ohne den geringsten Anflug von Verbohrtheit macht Haller deutlich, dass sein Weg genau der seine gewesen ist, dass die konzentrierte Arbeit am eigenen Stoff – „viel Jute, wenig Seide“ – die zwingende Voraussetzung dafür gewesen ist, auch anderen etwas sagen zu können. Eines Tages, nicht sofort, das habe ihm sein früherer Mentor Max Voegeli glücklicherweise schon in jungen Jahren vermittelt.

Stil als Lebensaufgabe, mit diesem Gedanken entlässt Haller sein Publikum in den Freitagabend, wo es sich mit den Strömen aus dem Erdgeschoss zu mischen beginnt. Die Gänge, der Schankraum, der Vorplatz beginnen sich mit jenem angeregten Brummen zu füllen, das die Literaturstadt Zürich leider zu selten vernehmen lässt. Zufriedene Gesichter, gefüllte Beutel, viel Jute, viel Seide. Gefährt:innen, Büchermenschen, Freund:innen, allet jut. Bis auf diese Lücke; unsere Gefährtin, Büchermensch, Freundin, die fehlt.