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Sprachmächtige Erinnerung
von Manfred Papst, NZZ am Sonntag, 24. 1. 08
Drei autobiografisch inspirierte Romane hat der Aargauer Schriftsteller Christian Haller (*1943) in den letzten Jahren vorgelegt. Sprachmächtig und präzis, musikalisch vielfältig und perspektivisch aufgefächert erzählen sie vom Leben einer Schweizer Familie in den 1920er bis 1950er Jahren. In «Die verschluckte Musik» (2001) geht es vor allem um die Mutter des Erzählers, die als Tochter eines Schweizer Textilindustriellen in Bukarest aufgewachsen ist und Glanz, Bildung, Weite in die Familie bringt; «Das schwarze Eisen» (2004) dagegen widmet sich dem Grossvater, der sich vom Verdingbub zum Stahlunternehmer hochgearbeitet hat und die Geschicke des ganzen Familienclans mit harter Hand lenkt. «Die besseren Zeiten» (2006) schliesslich handelt vom sensiblen, introvertierten Vater des Erzählers, der in den Jahren des Wirtschaftswunders ein Fremdling bleibt, und vom heranwachsenden Sohn selbst. Über mehrere Generationen spannt sich Hallers grosses Romanwerk. Es gestaltet einerseits Figuren, die man nicht mehr vergisst, umreisst andererseits aber auch eine ganze Epoche der Schweizer Geschichte. Diese «Trilogie des Erinnerns» steht in der Tradition Inglins und ist in ihrer Bedeutung für die Schweizer Literatur noch nicht annähernd erkannt worden; die einbändige Taschenbuchausgabe bietet Gelegenheit, das nachzuholen. (pap.)
Christian Haller: Die verschluckte Musik. Das schwarze Eisen. Die besseren Zeiten. Trilogie des Erinnerns. btb, München 2008, 893 Seiten, Fr. 18.90.
Ein Meisterwerk deutschsprachiger Gegenwartsliteratur
Mit dem Roman „Die besseren Zeiten“ vollendet Christian Haller ein seit Gustav Freitag und dem frühen Walter Kempowski künstlerisch singuläres Erzählwerk zur Zeitgeschichte
Von Gerhard Beckmann
So etwas hat es in der deutschsprachigen Literatur seit langem nicht gegeben – einen Familien- und Generationenroman, der mit einer einverwobenen Geschichte der Entwicklung von Handel, Industrie und Arbeitswelt ein epochales Gesellschafts- und Mentalitätsportrait zeichnet. Da war bei uns in den 1980er Jahren eine Tradition abgebrochen, die jetzt der 61jährige Schweizer Schriftsteller Christian Haller mit einer superben Trilogie wiederbelebt hat. Sie findet in dem soeben veröffentlichten Roman „Die besseren Zeiten“ ihren Abschluss.
Es handelt sich um höchste moderne Erzählkunst, in der Vergangenes nicht „historisch“, sondern menschlich, sinnlich wie gedanklich auf seltene Weise präsent wird. Nicht zuletzt, weil Haller die Welt, in der wir heute leben, in einer Spurensuche nach Schlüsselereignissen der Vergangenheit aufzuschlüsseln versteht.
So erleben wir den Schleier der Melancholie über dem eigenen Einerlei in der Geschichte der Mutter des Ich-Erzählers. Als Tochter eines in der Fremde tätigen schweizer Textilindustriellen wuchs sie im Bukarest Anfang des 20. Jahrhunderts auf – in einer osteuropäischen Metropole (!) mit einem uns heute unvorstellbaren glanzvoll eleganten grossbürgerlichen Lebensstil. Der Erzähler geht ihr nach, nach - um zu begreifen, warum die Mutter in der puritanisch bieder engen Schweiz verkümmert und er selbst seine Existenz immer wieder trostlos grau empfindet.
Der zweite Band „Das schwarze Eisen“ rückt den Grossvater in den Mittelpunkt, einen vereinsamten verschlossenen Patriarchen, der ein unerbittlich strenges Regiment führt. Alle kennen ihn nur als den Selfmade-Man, der – quasi aus einem Nichts auttauchend - als einer der ersten erkannte, dass das Gold seiner Heimat die Wasserkraft ist. Er ist als eine Gründerfigur der Schweizer Wirtschaft hoch geachtet, initiierte er doch die Nutzung von Elektrizität – statt Kohle – beim Schmelzen von Eisen zu Stahl.. Und er wusste die Zeichen der Zeit vor den Weltkriegen zu deuten (und sich demgemäss politisch zu arrangieren), indem er frühzeitig ganz auf die Rüstungsindustrie setzte. Doch woher kam seine schier unerschöpfliche Energie und seine Fähigkeit, sich im Umgang mit allen rücksichtslos hart durchzusetzen? Woher seine Motivation zu dem kompromisslosen, gerade fanatischen Einsatz, sich und sein Land hoch zu bringen?
Seine engsten Angehörigen erfahren es – mit Entsetzen – erst nach seinem Tod, als sie einen Geheimkoffer mit Unterlagen zu den „fehlenden Jahren“ seiner Biographie entdecken. Es war der Wille des Grossvaters, der ihn trieb, der „Schande“ der Armut zu entkommen, welche seine Kindheit und Jugend ruinierte Seine Eltern wurden nach dem Ausbrennen ihrer bescheidenen Wohnung ins Armenhaus gesteckt. Er musste, obwohl hochbegabt, früh die Schule verlassen und wurde, „nur mit einem Zwetschgenglas in der Hand“ in eine Kleinstadt verdingt. In seiner Not, „nichts zu haben, nicht mal genug, um zu essen, geschweige denn Geld, um auch nur das Notwendigste zu kaufen“, beging er an seinem Arbeitsplatz einen Diebstahl. Der Verhaftung und (ehrrührigen) Verurteilung entzog er sich durch die Flucht in die französische Fremdenlegion, von der er nach fünf Jahren – als Sergeant – (zurück in die Heimat) desertierte: brutal entschlossen, es in einem neuen Leben zu was zu bringen und durch eine Modernisierung der Wirtschaft die allgemeine Not der Bevölkerungsmehrheit zu überwinden, die ihn in ihren Strudel gerissen hatte. So enthält dieser Roman denn auch, wunderbar eingeflochten, eine kleine Geschichte der Elektrizität wie der Metall- und Maschinenbauindustrie. Und Christian Haller ruft eindringlich in Erinnerung, dass die Schweiz vordem ein armes agrarisch geprägtes Land war und erst nach dem Zweiten Weltkrieg wirklich reich geworden ist.
Und was sind sie nun, „die besseren Jahre“, um die es im dritten Roman dieser Trilogie geht? Von dem vorher gigantischen Unternehmungs- und Arbeitsethos, die den Aufschwung und heutigen Wohlstand begründeten, hat im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte so viel nicht überdauert. Es sind meist hochbezahlte „lackierte Angeber“, die öffentlich den Ton vorgeben. Es sind Mittelständler, die unter dem Eindruck der Leistungen ihrer Väter mit sich selbst und der Welt unzufrieden sind. Es ist eine Generation, bei der im Genuss der Kosumwelt Katerstimmung aufkommt – die Generation der heute 80jährigen, die einer von ihr noch erlebten Natur nachtrauert, die sie selbst in einer hemmungslosen Bautätigkeit zerstören half: „Das Dorf selbst begann zu wuchern, entwickelte eine Kraft, die von innen nach aussen drängte, gegen die das Grün, die abgezirkelten Felder, der Wald mit seinen Nebelfetzen nichts mehr vermochten....“
Für die vier Menschen im engeren Umkreis des Vaters schlägt die Utopie einer Beherrschung der Natur im Dienste menschlichen Glücks im letzten Teil der Trilogie um in Verlust. Ihnen fehlt die Durchsetzungsstärke, ein Leben nach den Masstäben eigener Erkenntnisse aufzubauen. Unter dem Druck der „Sachzwänge“ suchen sie Zuflucht
in Träumen und Illusionen.
Gerhard Beckmann
Christian Haller, Die verschluckte Musik. Roman S., Euro 18,50 Christian Haller, Das schwarze Eisen. Roman. 313 S., Euro 22,50 Christian Haller, Die besseren Tage. Roman. 283 S., Euro 19,95 Alle im Luchterhand Literaturverlag, München.
Christian Haller, Trilogie des Erinnerns, btb Taschenbuchausgabe, Mpnchen 2008, Euro
10.-