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Die besseren Zeiten
Roman Luchterhand Literaturverlag
Erscheinungstermin: August 2006
Ein Leben gegen die Zeit, ein Leben in Träumen: Christian Hallers meisterhafter Roman einer Familie.
Anfang der fünfziger Jahre zieht die Familie H. in ein kleines Dorf um. Doch mit dem kargen Leben auf dem Land kommt sie nicht zurecht. So flieht jeder für sich in eine schönere Welt der Träume und Illusionen. Mit diesem Roman, dem glanzvollen Schluss- und Höhepunkt seiner „Trilogie des Erinnerns“, erweist sich Christian Haller als einer der großen Autoren der Gegenwartsliteratur.
»So! Da werden wir wohnen.« Anfang der fünfziger Jahre zieht die Familie H. in die fremde Welt eines kleinen Dorfes. Es ist eine enge, zutiefst karge Welt, in die sie verschlagen werden, ein Schock für die Familie. In der Stadt, in der die Familie H. bis dahin gewohnt hatte, war es allen gut ergangen. Während die Familie versucht, sich in dem rückständigen Milieu zurechtzufinden, erfassen die Veränderungen der Wohlstandsjahre auch das Dorf. Zwischen Rückständigkeit und Entwicklung erweist sich das Leben als eine Herausforderung, der am Ende keiner der Familie gewachsen ist. Jeder für sich beginnt sich daher in eine Welt der Träume zu flüchten …
Christian Haller erzählt in genauen Bildern vom »wunschlosen Unglück« einer Familie, die mit ihrer Zeit nicht zurecht zu kommen versteht. Es ist die feinnervig erzählte Geschichte von vier Menschen, die sich nach einem unbeschwerten Leben sehnen, die aber die Durchsetzungsstärke nicht aufbringen, sich dieses Leben zu sichern, und in der Folge lieber in Träumen Zuflucht suchen.
"Der Roman wird von einer Fülle lebendiger und tiefer Figuren bevölkert ...Eine herausragende Erscheinung des Bücherherbstes." Tagesanzeiger
Die drei ersten Kapitel als pdf -> download
Einleitung Buchvernissage: Samuel Moser
Christian Haller: «Die besseren Zeiten»
Müllerhaus Lenzburg, 8. September 2006
Christian Haller-Leser werden in seinen neuen Roman nicht einsteigen, ohne über die ersten Worte schon zu stolpern: Sie heissen «Schnee» und «Ankommen». Es beginnt mit einer Ankunft im Winter. Man ist zurückversetzt in die ominöse Ankunftsszene mit dem Rutsch von der schneebedeckten Strasse im kleinen Ford der Familie W.H. auf den ersten Seiten des «Schwarzen Eisens». Es war der Mittelteil der Trilogie über Aufstieg und Fall der Schweizer Industriellen-Familie H.
Dann allerdings, früher oder später, eher früher, wird man sich als Leser dieser Herausforderung stellen, so wie auch Christian Haller sich ihr als Schriftsteller gestellt hat. Ich nenne sie die Herausforderung des anderen Blickes. Ich halte sie für einzigartig. Denn tatsächlich erzählt er nicht eine andere Geschichte mit anderen Figuren und anderen Schauplätzen. Er erzählt dieselbe noch einmal, aber aus anderer Perspektive, mit anderen Fokussierungen. Mit anderen Augen. Dass er sich eben nie auf ein lineares Erzählen beschränkt hat, sondern eine Geschichte im Kreuzungspunkt verschiedener Orte und Zeiten sich fast wie von selber hat erzählen lassen, dieses handwerkliche Können, das er in dem «Schwarzen Eisen» so meisterhaft an den Tag gelegt hat, kommt Christian Haller auch jetzt wieder zu gute.
Nun ist also die Trilogie und damit die Geschichte der H.s zuende. Der Begriff der «Trilogie» ist jedoch mit Vorsicht zu geniessen. Trilogien folgen dem Prinzip «Fortsetzung folgt» und neigen zur Besänftigung der Sprunghaftigkeit unseres Lebens. Auf allen Kanälen flimmern sie als «Serien» über den Bildschirm, und die Bestseller-Romane in vorauseilender Anbiederung hinter ihnen her. Christian Hallers neuer Roman aber bietet nicht den Trost, dass die Langeweile des entfremdeten Lebens als wie auch immer qualifiziertes Kunstprodukt geniessbar wird. Er bietet nicht die kindliche Sicherheit, dass wenn wir die Augen schliessen, am nächsten Morgen die Welt dieselbe ist, verlässlich und erkennbar geheilt. Und er bietet auch nicht den zynischen Trotz, der das «Fortsetzung folgt» zur Devise «Das Leben geht weiter» macht, die dann als «The show must go on» auf der Bühne wiederkehrt. Nein, Christian Hallers Bücher setzen sich fort in Brüchen und Widersprüchen, nicht in sanften Übergängen und beruhigenden Wiederholungen.
Dieses Textverständnis ist eng verflochten mit dem Gegenstand von Christian Hallers neuem Roman. Kontinuität oder Bruch, Tradition oder Widerstand, Integration oder Flucht: im Spannungsfeld dieser Alterantiven bewegen sich die Menschen in den «Besseren Zeiten». Der Ich-Erzähler insbesondere, der nun selber ins Blickfeld rückt, und aus dem, meine ich, sich in heftigen Verwerfungen und Zerwürfnissen der Schriftsteller Christian Haller entwickelt. Im «Schwarzen Eisen» wurde er sichtbar als Erzähler über seiner Geschichte. Jetzt ist er auf ihrer Augenhöhe. Als der, der seinen Figuren, dem Vater zumal, in die Augen schaut. Und das geht nicht, ohne dass diese Augen zurückschauen: «Ich liebte diese Augen», heisst es im zweiten Abschnitt des Buches. Das ist kein harmloser Satz. Er fordert den heraus, der ihn sagt. Denn die Augen des Vaters sind verletzte, vor Angst immer wieder ins Flimmern geratende Augen, die mit ihrer eigenen Geschichte nicht fertig werden. Nicht gütige Augen, nicht über alles wachende Vateraugen, nicht das beschützende Auge Gottes. Es sind Augen, die auch die Schwächen dessen sichtbar machen, der sich in ihnen spiegelt.
«Die besseren Zeiten» ist atmosphärisch ein anderer Roman als «Das schwarze Eisen». So wie «Das schwarze Eisen» anders war als «Die verschluckte Musik». Er atmet flacher, leiser, trauriger. Oder eher: trauernder. Der Vater, der jetzt im Mittelpunkt steht, ist zwar froh, dass der tyrannische Grossvater, der das «Schwarze Eisen» dominierte und ihm die zerklüfteten Konturen gab, endlich verschwindet. Aber im neuen Buch fehlt er dann doch. Das Verschwinden des Tycoons setzt Kräfte frei, aber nicht nur konstruktive. Auch zentrifugale. Es beschleunigt auch das Verschwinden, die Auflösung der Familie H. «Die besseren Zeiten» ist ein Roman der Abschiede. Alle, auch die Mutter, der Bruder, der Vater und der jüngere Sohn selber, der Erzähler eben, entfernen sich von dem, was ihr neues Leben in einer neuen Umgebung hätte werden sollen. Jeder erfährt auf seine Weise das Misslingen, die Trennung, die Einsamkeit, das Nicht-Ankommen.
Christian Hallers Trilogie wird gewürdigt als «Meisterwerk wider das Vergessen», so die Jury in ihrer Begründung des Aargauer Literaturpeises 2006. Zu recht. Aber man darf dabei nicht vergessen, dass Erinnerung immer auch problematisch ist. Eine Qual, nicht nur eine Qualität. Die Handbewegung des Grossvaters im «Schwarzen Eisen», der sich immer über das Gesicht wischte, als wollte er etwas loswerden, was ihm lästig war, bleibt unvergessen. Oder jetzt im neuen Buch das Versinken der Mutter in ihren Bukarest-Erinnerungen, die sie in das ländliche Dorf hinüberretten möchte und die sie gerade deshalb nicht ankommen lassen. Die sie auch ihrem Mann entfremden.
Und: Erinnerung kann auch eine Art von Flucht sein. Der Ich-Erzähler selber erinnert sich, wie er als junger Schüler im grossen Stil, mit grosser Ernsthaftigkeit und stupendem Erfolg auf nationalem Niveau Archäologie betrieben hat: Erinnerung an unsere kollektive Vergangenheit. Bis dieser Anker, den er ausgebracht hatte, um in den Ungewissheiten seines jungen Lebens einen Halt zu finden, ausriss. Bis er bereit war, weiter zu gehen, sich der Gegenwart zuzuwenden. Es wäre tatsächlich gefährlich falsch, in Christian Hallers Trilogie eine Sammlung von Erinnerungen, ein Album zu sehen. Denn Erinnerung ist hier keine Konservierungs-, sondern eine Dekonstruktionsmethode.
Aber es gibt doch noch eine andere Dimension des Erinnerns in Christian Hallers Roman, die mir wesentlich scheint. Die Erinnerungen seiner Figuren sind auch Visionen. Sie hängen nicht nur in der Vergangenheit fest. Sie greifen voraus. Die Spuren, die der Erzähler verfolgt (Spuren im Schnee, Spuren in der Erinnerung, Spuren in der Urgeschichte) kippen und führen in die Gegenwart. Das Mandelauge der ägyptischen Pharaonin auf einem Sarkophag des Historischen Museums wird gar zum Glücksversprechen. Der Erzähler findet diese Augen wieder in denen eines Mädchens am toscanischen Strand. Es ist das Versprechen der Pubertät, der Entdeckung des anderen Geschlechts, der Gegenwärtigkeit menschlichen Lebens, zu dem auch das Scheitern gehört.
Das industrielle Projekt des Grossvaters war gescheitert, weil es nur auf Tradition und Kontinuität setzte. Aber schon dem Vater öffnet das Scheitern neue Welten. Es öffnet ihm die Augen.
Ich betone: die Augen. Das Augenlicht ist das geheime Band, das die «Besseren Zeiten» mit dem «Schwarzen Eisen» verbindet. Das Auge des Vaters ist das Auge des Romans. So wie man vom Auge des Hurrikans redet. Der blinde Fleck, um den sich alles dreht. Das Zentrum. Ein funktioniert in zwei Richtungen. Es ist die Brücke zwischen Innenwelt und Aussenwelt. Ein Medium. Eine Angelegenheit des Dichters. Durch das Auge schauen wir hinaus und hinein. Die Augen, sagt man, sind die Fenster der Seele. Das Augenlicht, das der Vater beinahe verloren hat, wir erinnern uns an den Mittelteil des «Schwarzen Eisens», wird ihm zum Fenster. Auch er beginnt, mit anderen Augen zu sehen. Hier findet der wichtigste Perspektivenwechsel in Christian Hallers Roman statt. Er führt aus der Erinnerung hinaus ins Schauen. Aus der zunehmenden Unschärfe ins genaue Schauen auf das, was vor uns liegt.
Christian Hallers Roman hat einen eindrücklichen, sehr interessanten Schluss. Der Sohn begleitet den Vater auf seinem letzten Spaziergang. Alles drängt auf die Schilderung des Sterbens des Vaters, im Kontrast zum polternden Treppensturztod des Grossvaters. Aber Christian Haller verzögert an dieser Stelle das Buch. Nichts wird gesagt, was noch gesagt werden müsste. Es ist nicht wichtig. Wichtig ist eine andere, eine ebenso existentielle wie für den Schriftsteller praktische Frage: wie merkt der Sohn, dass es der letzte Spaziergang ist? Wie kann er es merken? Er merkt es an den Augen des Vaters, die da, wo es um Alles geht, sich schon lösen und frei werden für das, was nebensächlich ist: den dunklen Silsersee, das Geäst, die Baumstämme und den hellen Streifen Schnee darauf. Ich zitiere eine der letzten Stellen im Buch, für mich eine der eindrücklichsten: «Aus den Felsen drang der Stamm einer Föhre, ragte als ein Strang rötlicher Kraft über das Wasser, breitete die Äste aus, an denen in Büschel die Nadeln sassen, filigrane Strahlen von Grün, aufgehellt von einem Strich Schnee über dunklem Wasser. Vater blieb stehen, schaute lang, schweigend, und ich spürte ein Würgen im Hals. Ich verstand das erste Mal wirklich, dass er nicht mehr lange da sein würde, dass in diesem Blick auch ein Abschiednehmen lag.»
Es ist der Erzähler, der hier sieht. Er sieht den Vater und er sieht, was der Vater sieht. Er sieht mit den Augen des Vaters. Die anderen Augen sind die Augen des Anderen, und die Augen des Anderen sind die eigenen geworden. So wird das Ende des Vaters zur Geburtsstunde des Schriftstellers Christian Haller.
«Er ist angekommen», schreibt er, wenn der Vater stirbt. Die letzte Seite des Buches ist präzis das Echo der ersten. Ich weiss nicht, ob sich hinter solch formaler Präzision mehr Ironie oder Melancholie verbirgt. Vielleicht ist es gerade diese Ungewissheit, die mir den Erzähler Christian Haller so kostbar macht.
Dann fasst der Sohn die Hände des toten Vaters und erschrickt: «Sie waren wärmer als die meinen.» Der Vater stirbt und lebt weiter. Nur in diesem Sinne gilt dann hier, über das Ende der Trilogie hinaus: «Fortsetzung folgt».
Samuel Moser
Basler Zeitung
Tod einer ehrlichen Haut
Zu Christian Hallers Roman „Die besseren Zeiten“
Markus Bundi
Was zeichnet einen erfolgreichen Verkäufer aus? – „Ich weiss, was immer für ein Produkt du wählst, verkaufen kannst du – und sie dachte, während ihr die Tränen in die Augen stiegen: Weil du anständig bist und glaubst, dies auch bei allen anderen voraussetzen zu dürfen.“ Dies sagt und denkt Ruth, die Frau von W., der eben von seinem Kompagnon Hackler zum zweiten Mal vor die Tür gesetzt worden ist. Erzählt wird die Geschichte, die Mitte der Fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts einsetzt, vom jüngeren der beiden Söhne, jenem Ich-Erzähler, der schon durch Christian Hallers Romane „Die verschluckte Musik“ (2001) und „Das schwarze Eisen“ (2004) führte.
Es ist die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, insbesondere des Baubooms, der in den Sechziger Jahren in der Schweiz einsetzt, nach viel Beton verlangt und nach immer leistungsfähigeren Kranen. In dieses Geschäft steigt auch W. ein – nachdem ihn sein Bruder O. aus dem familieneigenen Betrieb hinausbefördert hat –, doch er gerät erneut an den Falschen; weil einer wie W. nur immer an den Falschen geraten kann. Die Familie gehört der oberen Gesellschaftsschicht an, wohnt und lebt nicht unbescheiden, dennoch zeichnen sich schon bald erste Risse ab. Die beruflichen Neuausrichtungen zehren nicht nur an den Kräften des Vaters, sie zwingen die Familie von der Stadt aufs Land, fordern sowohl von der Mutter als auch von den Söhnen immer wieder neuerliche Anpassungen.
Obwohl Ruth zunächst bemüht ist, auch im Dorf die „Ambience“ zumindest in den eigenen vier Wänden zu erhalten, flüchtet sie sich in eine innere Emigration, in eine Vergangenheit, die noch von Hoffnungen getragen war. Auch der Ich-Erzähler beginnt sich für die Vergangenheit zu interessieren, für eine allerdings, die weiter zurückliegt – zusammen mit einem Freund sucht er die Gegend nach alten Tonscherben ab. Kurze Zeit später schaffen es die beiden mit ihren archäologischen Funden ein erstes Mal in die Zeitung. Schwieriger gestaltet sich die Situation für den älteren Bruder: Der Wunsch nach einer Grafikerlehre wird ihm verwehrt. Es ist eine der letzten Entscheidungen, die der übermächtige Grossvater fällt, jener Mann, der es vom Fremdenlegionär zum Grossindustriellen brachte und schon das Schicksal der Söhne bestimmte.
„Die besseren Jahre“ ist der Abschluss von Christian Hallers „Trilogie des Erinnerns“. Nachdem im ersten Buch die Mutter und ihre rumänische Vergangenheit im Zentrum stand, im zweiten der Grossvater väterlicherseits, richtet sich nun die Aufmerksamkeit auf den Vater. Einen Vater, den der Ich-Erzähler schliesslich in der Literatur neu entdeckt; nicht nur ihn, sondern die Geschichte der eigenen Familie in Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ wieder zu erkennen glaubt. Eine Vaterfigur, die sich in einer Welt der Intrigen bewegt, in der mit Ellbogen und härteren Bandagen gekämpft wird, darin er, W., Anstand und Ehrlichkeit hochhält – und scheitert. Der Vater stirbt früh, und es bleiben drei Menschen zurück, von denen jeder seinen eigenen Weg einschlägt, „Die besseren Jahre“ in der Erinnerung bewahrend oder für die Zukunft im Blick.
Dennoch ist dieser Roman kein trauriges Buch. Die einzelnen Kapitel geben Alltagsgeschichten wieder, Sequenzen aus dem Leben der Familie, die sich zum Beispiel um Muscheln, eine Glasperle oder ein Horoskop drehen. Haller baut auf die Ästhetik der Langsamkeit und er erreicht dabei eine sprachliche Präzision, eine Eleganz auch, die in der Gegenwartsliteratur rar geworden ist. Dem Korsett äusserer Sachzwänge hält der Autor in atmosphärisch dichten Bildern die kleinen Glücksmomente entgegen. So blüht die Mutter in Italien jeweils auf, auch weil Klima und Menschen sie an Rumänien erinnern, der Vater entdeckt für sich die Fotografie und mit ihr die Natur, der ältere Bruder besucht Abendkurse an der Kunstgewerbeschule und der Ich-Erzähler betritt die Bühnenwelt des Theaters, wo „alle Zeiten – von der Steinzeit bis zur Moderne – als eine Gegenwart möglich sind“.
Ein weiteres Stück schweizerischer Familiengeschichte, das sich nahtlos einfügt in die beiden Vorgängerromane, zugleich aber eine Einheit für sich bildet; in der Chronologie des Erscheinens zwar am Schluss steht, genauso gut aber als Anfang lesbar ist. Denn was für die Bühne gilt, gilt nicht minder für die Erinnerung: Beides zielt auf Vergegenwärtigung. Und so hört auch der Leser wieder das Getöse der Welt zu Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs bis hin zur Ölkrise Mitte der Siebziger Jahre; und er begleitet dabei eine Familie, deren Konstellation und Probleme in höchstem Masse spezifisch anmuten, gleichwohl aber auch exemplarisch für das Schicksal vieler zu jener oder auch einer andern Zeit stehen.
Christian Haller: Die besseren Zeiten. Roman. Luchterhand Verlag, München 2006. 288 Seiten, 35 Franken.
Die Südostschweiz
Den Bruchlinien der eigenen Familiengeschichte entlang
Christian Hallers literarische Familienforschung beginnt und endet in Berlin, «an der Bruchstelle zwischen Ost und West». Diese Linie zieht sich durch die Familie des Schweizer Autors. In seinem neusten Roman führt Haller die Welten zusammen.
VON FRANZISKA RAMSER
Berlin. – Die Sonne malt einen gleissenden Fleck auf die Tischplatte des Berliner Cafés. Christian Haller stellt eine Plastiktüte mit leeren Flaschen auf den Boden. «Die Koffer sind gepackt. Morgen reise ich zurück in die Schweiz», sagt der Schriftsteller. Drei Monate hat Haller in einem Künstleratelier im Berliner Zentrum gelebt und gearbeitet. Er reist ab mit einem fertigen Roman in der Tasche. «Die besseren Zeiten» erscheint dieser Tage im Verlag Luchterhand. Das Buch bildet den Abschluss der Trilogie, die Haller mit «Die verschluckte Musik» 2003 eröffnet und mit «Das schwarze Eisen» 2004 fortgesetzt hatte. Das grosse literarische Projekt des Schweizer Schriftstellers hat in der deutschen Hauptstadt seinen Anfang genommen und ist auch hier vollendet worden. «Der Kreis schliesst sich», sagt Haller. Als ihm das Aargauer Kuratorium, die Kulturföderstelle seines Heimatkantons, Anfang dieses Jahres ein dreimonatiges Berlin-Stipendium anbot, griff Haller sofort zu. Mit ein paar wenigen Kleidungsstücken, Computer und Drucker zog er in das Atelier in den Hackeschen Höfen ein und widmete sich der intensiven Lektoratsarbeit.
In Berliner Bibliotheken recherchiert
Mit der Trilogie hat Haller auch einen grossen Themenkreis, jenen der eigenen Herkunft geschlossen. Der erste autobiografisch inspirierte Roman führte auf die Spuren der Mutter. Diese war als Tochter eines Schweizer Textilindustriellen in Bukarest aufgewachsen und hatte ihre Kindheit im untergehenden Grossbürgertum Osteuropas erlebt. Grosse Teile von «Die verschluckte Musik» habe er in den Berliner Bibliotheken recherchiert, erzählt der Autor. Habe mit Hilfe alter Stadtpläne das ehemalige Bukarest bis hin zu Strassenzügen und Tramlinien rekonstruiert. Vor allem aber sei die deutsche Hauptstadt als «Bruchstelle zwischen Ost und West» ein idealer Arbeitsplatz gewesen, sagt Haller. «In Berlin berühren sich die Welten.» Den zweiten Band widmete der Schriftsteller der Vaterwelt auf der anderen Seite der Ost-West-Bruchlinie. Der geheimnisvollen Eleganz der fremden rumänischen Welt stellte Haller in «Das schwarze Eisen» die Enge des arbeitsamen Schweizer Mittellandes gegenüber. «Während die Mutter Feudales, Vornehmes verkörpert und aus einer Familie stammt, die sich mit Tuch – etwas sehr Weichem – beschäftigt hat, kommt der Grossvater väterlicherseits aus dem Nichts und kämpft sich empor mit Eisen», streicht Haller die Gegensätze heraus. «Im dritten Band finden Mutter- und Vaterwelt zusammen», sagt der Autor. Nach dem Zusammenbruch des Grossbürgertums und der Zeit der zwei Weltkriege beleuchtet er in «Die besseren Zeiten» die Fünfzigerjahre.
Rein gesellschaftliches Interesse
So sehr Haller aus der eigenen Geschichte schöpft – als biografisches Schreiben will er seine Arbeit nicht verstanden haben. Der studierte Zoologe und Paläontologe betreibt seine Familienforschung nicht aus privatem, sondern aus gesellschaftlichem Interesse. «Meine Familie gibt in ihrer kontroversen Struktur ein verblüffend genaues Abbild vom 20. Jahrhundert mit seinen Bewegungen und Strömungen», erklärt Haller. Im Individuellen der eigenen Biografie sucht er das Exemplarische, entfaltet mit seinen Figuren zugleich ein Panorama ihrer Zeit.
Leergut aus dem Atelier
Vor die Juli-Sonne hat sich für einen angenehmen Moment eine Wolke geschoben. Er reise schweren Herzens ab, sagt Haller. In die Schweiz ziehe es ihn, den Ortsungebundenen, nicht zurück. Bevor er aber sein Buch endgültig aus der Hand und in die Welt gibt, wird Haller an diesem Vormittag erst einmal die leeren Flaschen zurückgeben. Mit dem Leergut verschwinden die letzten Spuren seiner Arbeit aus dem Berliner Atelier.
Christian Haller: «Die besseren Zeiten», Roman. Luchterhand, 238 Seiten, 35 Franken.
Der Bund, Sandra Leis
Im Wirtschaftswunderland
Christian Haller, einer der Stilleren in der Schweiz, beendet mit dem Roman «Die besseren Zeiten» seine opulente Trilogie des Erinnerns. Das jüngste Werk ist grossbürgerliche Familiengeschichte aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und luzides Zeitdokument zugleich.
Mit seinem Roman «Die verschluckte Musik» schaffte Christian Haller vor sechs Jahren den literarischen Durchbruch. In den Feuilletons erschienen Elogen, und doch blieb Haller selbst bei den Buchhändlern weitgehend unbekannt. Daran hat sich bis heute nichts geändert, obwohl der nachfolgende Roman «Das schwarze Eisen» (2004) Hallers Könnerschaft erneut unter Beweis stellte. Diese Wenig-Beachtung erstaunt umso mehr, als Haller kein L’art pour l’art zu Papier bringt, sondern Bücher schreibt, die von welthaltigen Stoffen handeln und in einer ebenso virtuosen wie detailgenauen Sprache gehalten sind. Und jetzt zeigt der 63-jährige, im aargauischen Laufenburg lebende Haller mit dem Roman «Die besseren Zeiten» zum dritten Mal, dass er zu den wichtigen deutschsprachigen Autoren der Gegenwart gehört.
In seiner Trilogie des Erinnerns – jeder Teil ist in sich abgeschlossen – betreibt der studierte Zoologe und Paläontologe eine akribische Familienarchäologie: Der erste Roman ist eine Hommage an die Mutter und schildert deren grossbürgerliche Kindheit in Bukarest, bis die Weltwirtschaftskrise die Familie unsanft aus dem Paradies verstösst und in die Schweiz zurückspediert. Die Aufsteiger-Karriere des Grossvaters väterlicherseits ist Thema des zweiten Romans, und nun widmet sich Haller in «Die besseren Zeiten» der Familie, die er als Bub selber erlebt hat. Über das rein Familiäre hinaus liefert er ein in prächtigen Farben ausgemaltes Tableau, das eine Schweiz im Wirtschaftswunderfieber spiegelt.
Aus dem Kopfalbum
Man schreibt Anfang der Fünfzigerjahre, und die Familie, bestehend aus Vater, Mutter und zwei Buben, wird vom herrschsüchtigen Grossvater von Basel in den Aargau zurückbeordert, weil er eine Maschinenfabrik und eine Giesserei gekauft hat, die seine beiden älteren Söhne gemeinsam leiten sollen. Die Familie aber tut sich schwer mit den engen ländlichen Verhältnissen; insbesondere die Mutter verlangt nach «Ambience» und findet nur Spiessigkeit. Und der Vater, eine ehrliche Haut, hat zwar verblüffend zukunftsträchtige Eingebungen, lässt sich aber immer wieder von miesen Geschäftspartnern – selbst vom eigenen Bruder – über den Tisch ziehen. Die beiden Buben schliesslich flüchten in ihre je eigenen Welten: Der Ich-Erzähler erkundet mit seinen Ausgrabungen vergangene Welten und geht als junger Mann zum Theater, wo «alle Zeiten – von der Steinzeit bis zur Moderne – als eine Gegenwart möglich sind». Der Bruder sympathisiert mit den Arbeitern und dem Kommunismus und erfüllt sich endlich einen lang gehegten Wunsch: Er emigriert in die USA und besucht eine Kunstgewerbeschule, um Grafiker zu werden. Haller berichtet aus dem «Kopfalbum meiner Erinnerungen» und fügt die inneren Bilder zu einem berückenden Familienporträt, das geprägt ist von Brüchen und Kontrasten, wie sie das 20. Jahrhundert kennzeichnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg verblassen die Schönheiten Osteuropas unwiederbringlich hinter dem Eisernen Vorhang, während der Westen Aufbruchstimmung verströmt und mit seinen neuen Gütern wie Waschmaschine, Fernseher oder Toaster eine Epoche einläutet, die wie keine zuvor versessen ist auf wirtschaftlichen Fortschritt und Luxus. Hallers Hauptinteresse gilt dem Zeittypischen und Exemplarischen, und so entsteht aus einem Familienroman ein umfassendes Zeitdokument. Formal löst Haller diese doppelte Funktion souverän: Wenn er von der Familie berichtet, schlüpft er in die Rolle des Ich-Erzählers; gehts um Mentalitätsgeschichte, so wechselt er in die auktoriale Position.
Dem Vater gewidmet
Was den Charme dieses Romans ausmacht, ist Hallers untrüglicher Blick für Nuancen. Erich Hackler, einst Angestellter des Grossvaters, mittlerweile selbst Firmenboss, der den Vater als Compagnon geschasst hat, versucht diesen wieder ins Boot zu holen. In piekfeines Tuch gehüllt, die Schuhe poliert, stimmt nur eines nicht: die karierten Socken. In den Augen der Mutter entlarven sie den Parvenu – der Leser aber empfindet eine Spur von Mitleid für diese im Grunde armselige Kreatur. Haller verrät den skrupellosen Hackler nicht, genauso wenig wie er den Vater oder die Mutter idealisiert. Gleichwohl gilt die Liebe des Autors dem Vater, dem dieser Roman gewidmet ist. Ein Leben lang unter der Fuchtel des Grossvaters, war der Vater, der in jungen Jahren beinahe das Augenlicht verlor, im tiefsten Innern ein Naturschwärmer. Auch auf Geschäftsreisen fühlte er bisweilen ein «Angerührtsein durch die Natur, das in einem zufälligen Blick so stark werden konnte, dass er anhielt». Ansonsten aber war ihm das Dasein mehr Mühsal denn Wonne. Lapidar heisst es auf der zweitletzten Seite: «Er genoss das Leben, weil es endlich zu Ende ging.» Im Roman «Die besseren Zeiten» holt Christian Haller diesen zaudernden Menschen zurück ins Leben und setzt ihm und seiner vorwärts drängenden Epoche ein ebenso wahrhaftiges wie feinsinniges Denkmal.
Christian Haller: Die besseren Zeiten. Roman. Luchterhand, München 2006. 283 Seiten, Fr. 35.–.
Zürcher Oberländer
Ehrlichkeit verdirbt Erfolg
Beat Mazenauer, SFD
Mit dem Roman «Die besseren Zeiten» schliesst Christian Haller seine Erinnerungstrilogie ab. Der Autor erzählt von seiner Kinder- und Jugendzeit und von den vergeblichen Bemühungen seines Vaters, ein erfolgreicher Geschäftsmann zu werden.
«Die besseren Zeiten» bildet das Mittelstück zwischen den opulenten, farbenprächtigen Romanflügeln «Die verschluckte Musik» (2001) und «Das schwarze Eisen» (2004). Nach der Mutter im ersten und dem Grossvater im zweiten Buch ist dieser dritte Teil ganz dem Vater gewidmet.
Mitten im Aufbauwunder der 1950er und 1960er Jahre versuchte er sich als Geschäftsmann, vermochte aber die in ihn gesetzten Erwartungen nicht zu erfüllen.
Der Alltag frisst die Träume auf
Christian Haller lässt seinen Erzähler wachsam mitverfolgen, wie der Vater mit ganzer Kraft, aber nur halbem Herzen daran scheiterte, das geschäftliche Familienerbe gedeihlich weiterzuführen. Sein ausserordentliches Verkaufstalent verband sich leider mit Unentschlossenheit und Nachgiebigkeit, wenn es darum ging, die eigenen Interessen und Wünsche zu vertreten und durchzusetzen.
Die Familie kam deshalb nicht zu Schaden. Die unsicheren Verhältnisse erlaubten ihr aber auch kein restlos sorgenfreies Leben. Der Vater gab seine musischen Träume auf; und die Mutter, ganz in ihre nostalgische Wehmut eingebettet, zog sich ins Haus zurück. Nur in Notlagen, in denen ihr Mann zu verzweifeln drohte, nahm sie die Dinge auf überraschend resolute Weise in die Hand.
Das Bild einer Epoche
Der Erzähler tat sich früh als prähistorischer Jungforscher hervor, der sogar in der Regionalpresse lobende Erwähnung fand. Etwas später dann entdeckte er ein Theaterstück, das ihm die familiäre Situation präzise zu widerspiegeln schien: Arthur Millers «Tod eines Handlungsreisenden». Damit wurde der Weg bereitet, der ihn zum Chronisten einer Epoche machte, in der sich Wiesen in Bauland und gute Stuben in Fernseharenen verwandelten.
Christian Haller erinnert sich mit zurückhaltender Anteilnahme an diese «besseren», selbst erlebten Zeiten. War der erste Band seiner Erinnerungstrilogie durch den Besuch des Erzählers in einer fremden Heimat meisterhaft mit der Gegenwart verstrebt und eröffneten die präzisen Recherchen im zweiten Band ein Kapitel Schweizer Industriegeschichte, so bleibt dieser dritte Teil demgegenüber eher blass.
Der Stolz des Ehrlichen
Stellenweise wunderbar anschaulich beschreibt er den Wandel von der Gründer- zur Konsumgesellschaft, doch sprachlich wirkt der Roman weniger souverän. Es knarrt und ächzt ganz leicht in den Fugen und Verknüpfungen. Vor allem die erzählerische Doppelperspektive auf den Vater gelingt nicht recht. Der Erzähler nennt ihn mal W., mal Vater, Ersteres sachlich distanziert, Letzteres emotional nah. Doch die Zuordnung ist oft nicht einsichtig, was eher verwirrt als einleuchtet.
«Die besseren Zeiten» ist dergestalt der nicht ganz so schillernde Abschluss einer nach wie vor eindrücklichen Trilogie, die an ihrem Anfang der Mutter, und an ihrem Schluss dem Vater die Reverenz erweist. Je älter dieser wurde, umso heiterer fühlte er sich: «Er genoss das Leben, weil es endlich zu Ende ging.» Dieser Eindruck bleibt haften. Christian Haller beschliesst so ein äusserst liebevolles Porträt eines Vaters, der auch als Geschäftsmann eine ehrliche Haut blieb und mit Recht darauf stolz war.
Christian Haller «Die besseren Zeiten». Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2006. 238 Seiten, 35 Franken.
Tages Anzeiger
Die Spuren eines vergangenen, langsameren Lebens festhalten
Christian Hallers Roman «Die besseren Jahre» erzählt mit einer Familiengeschichte auch die Geschichte der Schweiz in den 1950er-Jahren.
Von Ulrich Baron
© Tages-Anzeiger; 13.09.2006; Seite 51
Eigentlich ist es eine ganz einfache Geschichte, könnte man zunächst meinen, doch wie wunderbar wird sie erzählt: Da zieht eine Familie aus der Stadt ins Dorf und wird dort nicht glücklich, obwohl es ihr materiell immer besser geht. Ähnlich ist es seit den 1950er-Jahren zahlreichen Schweizern ergangen, doch deren Wege führten eher in die Gegenrichtung.
Auf Christian Hallers Familiengeschichte lasten wie ein Fluch der Hass und die Wut des Grossvaters. Der habe als junger Mann «eine andere gehabt, doch Grossmutter heiraten müssen, weil sie schwanger gewesen sei», weiss die Mutter - «und wie die Dinge nun mal seien, lasse er den Sohn dafür büssen». So versucht der Alte, der es aus einfachen Verhältnissen zum Industriellen gebracht hat, sein persönliches Unglück an die Nachfahren weiterzugeben, und schickt die Familie des Erzählers aus der Stadt, wo sie glücklich war, in ein Dorf, wo der Vater eine Giesserei übernehmen soll.
«Ich habe mir das ganz anders vorgestellt», sagt die Mutter, als sie die neue Wohnung besichtigt. Zu eng, zu kleinlich gebaut erscheint der Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie dieses neue Domizil, das kaum Raum bietet für die Möbel, die sie aus dem mondänen Bukarest in ihr Schweizer Exil hat hinüberretten können. Doch genau dorthin will ihr Schwiegervater sie verbannen, ins Enge und Kleinliche, das dieser selbstherrliche Grossunternehmer, der anderen so gern die «Kappe wäscht», aus sich selbst nicht hat verbannen können.
Als Familiengeschichte ist «Die besseren Jahre», dritter Teil von Hallers «Trilogie des Erinnerns», ein Roman über die Enttäuschbarkeit des Menschen, über die Arglist innerhalb der eigenen Verwandtschaft, über einen betrügerischen Geschäftspartner, auf den der Vater wiederholt hereinfällt. Gleichzeitig erzählt der 1943 in Brugg geborene Christian Haller die Geschichte der Schweiz in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Vom Grossvater gewaltsam in die Vergangenheit, ins Dorfleben zurückgestossen, erlebt die Familie des Erzählers dort den Anbruch einer neuen Zeit, der die Welt und die Schweiz in einen atemberaubenden Fortschrittstaumel und in einen wahren Baurausch versetzt.
Auch das Dorf, das bei der Ankunft im Winter noch umgeben war von schneebedecktem Land, dessen Konturen und Farben erst der Frühling preisgeben sollte, wird sich rasch wandeln, wird bald die Landschaft, die wie ein lahmes Schicksal vor den Fenstern lag, verschlingen: «Das Dorf selbst begann zu wuchern, entwickelte eine Kraft, die von innen nach aussen drängte, gegen die das Grün, die abgezirkelten Felder, der Wald mit seinen Nebelfetzen nichts mehr vermochten.»
Zauberwort «Beton»
Bäume fallen, Felder und Bauernhäuser weichen Fabrikhallen. In den Wirtschaften trinken sich Bauern um den Verstand, der ihnen sagt, dass sie durch den Verkauf ihres Landes nun reich geworden, aber keine Bauern mehr sind. Mit den Zügen kommen Männer aus Italien, die auch noch «wie Bauern aussahen und mit schweren Koffern, Pappkartons und einem Ballon Wein auf den Bahnhöfen herumstanden». Die Autos werden grösser, am Himmel kreisen Satelliten, eine flimmernde Kiste löst den Telefonrundspruch ab.
Präzise beschreibt Haller die Veränderungen auch der alltäglichsten Dinge im Dorfleben, die neuen Wörter, die man schon im Telefonrundspruch gehört hat, bevor man zu sehen bekommt, was sich dahinter verbirgt - etwas, das zunächst wunderbar erscheint, dann selbstverständlich und schliesslich unentbehrlich: «Jazz, Wolkenkratzer, Cabriolets und Highways, Kühlschränke und Milkshakes - ein Geflecht neuer Wörter, das uns mit seiner Magie nach Westen blicken liess, gefangen im Kugelblitz einer hochschiessenden Warenwelt.»
«Beton» ist eins dieser Zauberwörter, das auch der Familie des Erzählers aufhelfen wird: Betonmischer, Baumaschinen, Kräne - als deren Verkäufer ist der Vater ein wahres Naturtalent, das aber von seinem Partner wiederholt verraten und verkauft wird.
Schweizer Mythen
Während die Welt in den Himmel wächst, fühlt sich der Erzähler vom Boden geradezu magisch angezogen, denn dieser Boden gibt Zeugnisse einer Urzeit preis, deren Wörter, deren Sprachen längst erloschen sind, während steinerne Klingen und Tonscherben von einem vergangenen Leben künden. Es ist nicht die akademische Archäologie, die ihn fasziniert. Es sind vielmehr jene «Momente eines unmittelbaren Erlebens von Erde, Gestrüpp, Bäumen und Wasser, der Sonnenstrahlen, die durch das Laub einfielen, Flecken auf die Erde warfen, über die unsere Blicke hingingen». Durch die Schweizer Mythen - «am eingewurzeltsten wohl derjenige von der friedlichen Urbevölkerung, die, umgeben von einer feindlichen Landschaft, auf ihren heilen Pfahlbaurosten zu überleben suchte» - gräbt er sich durch, um endlich, arglos wie sein Vater, menschlich schwer enttäuscht zu werden.
Aber das mindert nicht seine Funde und nicht das Glück des Findens. Wie der Vater mit seinen Fotos, die Blumen festhalten und Menschen, «die Tätigkeiten nachgingen, die im Verschwinden waren», so hält auch der Erzähler Spuren eines Lebens fest, das längst einem anderen, schnelleren gewichen ist. Den Furien des Verschwindens tritt in Christian Hallers Roman ein Genius des Erinnerns entgegen.
Am 18. November erhält Christian Haller den Aargauer Literaturpreis.
10. Oktober 2006, Neue Zürcher Zeitung
Lesezeichen
Dialektik des Erinnerns
Christian Hallers Roman «Die besseren Zeiten»
Samuel Moser
An eine Szene von alttestamentarischer Dramatik erinnert sich der Erzähler: «So, spring endlich!» Vaters Stimme, die den Bruder des Erzählers zum Sprung aus der Schwebebahn auffordert, ist ungeduldig und fordernd. Der Bruder hängt an einer Sicherheitsvorrichtung. Nach dem Sprung würde er rechtzeitig den Bremshebel zu ziehen haben. Es wurde der erste und letzte Sprung mit Vaters Erfindung, einem Rettungsgerät von grotesker Untauglichkeit. Den Bruder lässt es nicht zerschellen, aber den Vater, Unternehmer und Verkäufer von Baumaschinen, rettet der Todesmut des Erstgeborenen nicht vor dem wirtschaftlichen Niedergang.
Der Bruder sagte Ja zu diesem Opfer. Er war bereit, seinen Weg als Grafiker aufzugeben, der ihn aus den Fängen dieser Familie hätte befreien sollen; bereit, mit dem Vater eine neue Firma zu gründen; bereit, seinem letzten Aufgebot zu folgen. Er war bereit zum Sprung, so wie auch der Vater immer bereit gewesen war, zu «springen» und den Befehlen des Grossvaters Hans H. zu gehorchen, wenn dieser die Familie zwang, ihr Leben aufzugeben im Interesse des Stahl-Imperiums.
Verlorener Widerstand
Abschied im Spannungsfeld von Kontinuität und Bruch, Anpassung und Widerstand ist das grosse Thema des Romans «Die besseren Zeiten», des letzten Teils von Christian Hallers Familien-Trilogie. Die Mutter versinkt immer mehr in der Erinnerung an ihre Jugend im eleganten Bukarest der dreissiger Jahre. Manchmal erwacht sie jäh in der neuen Dorfwelt. Ihre Fremdheit wird dann zu einer Form einsamen Widerstandes, der sie auch ihrem Mann immer mehr entfremdet. Auch der Grossvater ist verschwunden.
Dieser Tycoon mit der zwielichtigen Vergangenheit in der Fremdenlegion, der ruppige Autokrat von altem Schrot und Korn, dominiert nicht mehr Familie und Buch, wie noch im zweiten Teil der Trilogie. Im Zentrum stehen jetzt der introvertierte Vater W. und sein jüngerer Sohn, der Erzähler selber.
«Bessere Zeiten» sind nicht gute Zeiten. Allenfalls für einen skrupellosen Emporkömmling wie Hackler, den Kompagnon und Widersacher, der W. benutzt, demütigt und verdrängt. Wir sind in der Zeit des «Wirtschaftswunders» der fünfziger Jahre, die Haller in ihren Widersprüchen zügig, aber vielleicht etwas summarisch einbringt: Atombombe, Bikini, Kalter Krieg, Elvis. Was neu ist, braucht da keine Rechtfertigung. Was nicht mehr passt, verschwindet: Landschaften, Menschen, Werte. Zuletzt das Verschwinden selber, die Wahrnehmung der Veränderungen. Dass ein Wort nicht mehr ein Wort ist, bringt einen Geschäftsmann wie W. zu Fall. Für den Erzähler seinerseits ist es die Erfahrung, dass das Verlorene mit Worten nicht zurückzugewinnen ist. Auch er hat versucht, abzuspringen von der Welt, in die er nicht passt: zuerst in die Archäologie, dann ins Theaterfach. Zuletzt ins Schreiben. Aber gerade das bietet ihm am allerwenigsten Exil. Denn schreiben heisst: sich erinnern. Und erinnern heisst Widersprüchliches: zurückkehren und aufgeben.
Grossvater war durch einen polternden Treppensturz gestorben. W. stirbt nicht weniger einsam, aber lautloser: Er legt den Kopf zur Seite. Kein Flimmern, kein Zittern mehr jetzt in seinen Augen; die Stigmen der Angst sind erloschen. «Er war jetzt angekommen.» Angekommen im Tod oder in einem Leben, das er zu Lebzeiten nur in kurzen «Augenblicken» kannte: Wenn er, der in jungen Jahren fast das Augenlicht verloren hätte, sich seinen «Licht»bildern zuwenden konnte, dem Fotografieren, dem blossen Schauen. Unaufwendig und subtil versteht es Christian Haller, das prekäre, von Schuld und Zuneigung geprägte Verhältnis zu diesem Vater sichtbar zu machen. Mit Freund Armin geht der Erzähler einmal seinen archäologischen Funden nach. Auf einem Feldweg entdeckt er den Vater, wie er mit dem Fernglas Vögel beobachtet. Er schämt sich, hat das Gefühl, er müsste ihn beschützen und dabei seinen eigenen Schutz verlieren: «Als hätten wir Vater bei etwas Verbotenem ertappt, einer Schwäche, der er mitten am Nachmittag nachgab, indem er in die Bäume spähte, während Armins Vater arbeiten musste.»
Ein Abschied
Ergreifend präzis auch eine der letzten Szenen. In ihr findet Hallers Obsession für Genauigkeit ihre Begründung. Der Sohn besucht den Vater im Engadin, spaziert mit ihm zur Halbinsel Chasté im Silsersee. Es ist der letzte gemeinsame Spaziergang, und der Erzähler weiss, dass auch sein Erzählen zu Ende geht. Die Szene ist das Gegenstück zur Opferszene des Bruders, eine Versöhnung. In ihr werden die Augen des Vaters zu den Augen des Sohnes, des Erzählers. Die Wahrnehmung des Vaters, im doppelten Sinn, vereinigt nochmals alle Helligkeit und Dunkelheit seines Lebens: «Aus den Felsen drang der Stamm einer Föhre, ragte als ein Strang rötlicher Kraft über das Wasser, breitete die Äste aus, an denen in Büscheln die Nadeln sassen, filigrane Strahlen von Grün, aufgehellt von einem Strich Schnee über dunklem Wasser. Vater blieb stehen, schaute lang, schweigend, und ich spürte ein Würgen im Hals. Ich verstand das erste Mal wirklich, dass er nicht mehr lange da sein würde, dass in diesem Blick auch ein Abschiednehmen lag.» In diesem Blick und in diesen Sätzen.
Samuel Moser
Christian Haller: Die besseren Zeiten. Roman. Luchterhand, München 2006. 237 S., Fr. 35.-.
Wochen Zeitung WOZ, Zürich
Schattenseiten des Wirtschaftswunders
Von Bettina Spoerri
Der dritte Teil seiner grossen Trilogie beschreibt den sozialen Abstieg einer Familie in den 1950er Jahren und den Verlust von Erinnerungen in der Nachkriegszeit.
Die Trilogie von Christian Haller umfasst mehr als ein halbes Jahrhundert, über 800 Seiten und ist innerhalb von fünf Jahren erschienen: «Die verschluckte Musik» (2001), «Das schwarze Eisen» (2004), und als dritter Roman nun «Die besseren Zeiten». Wie im Titel angedeutet, ist dieser letzte Teil von Nostalgie geprägt, und zwar - was zuerst einmal befremden mag - von einer Sehnsucht nach den vierziger Jahren. Der Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit macht die vierköpfige Familie, von Haller aus der Sicht des jüngeren Sohnes beschrieben, immer mehr zur ökonomischen und gesellschaftlichen Verliererin. Mit dem Vater werden die Mutter und die zwei Söhne von der Stadt in die Provinz geschickt, ein Dorf im Jura, dann wird der Vater aus der Firma des Grossvaters entlassen. Den Aufstieg dieses Grossvaters aus ärmlichsten Verhältnissen zum Chef eines Stahlunternehmens und stahlharten patriarchalischen Oberhaupt der Familie H. hat Haller in «Das schwarze Eisen» beschrieben. Der Vater rappelt sich zwar wieder auf und gründet eine eigene Firma, doch bald wird er von seinem Teilhaber Hackler übervorteilt. Dieser ist denn auch der typische Gewinner des Wirtschaftswunders, ein skrupelloser Geschäftsmann, der gerne mit seinem neureichen Besitz protzt. Ein Mann ohne Erinnerung, der nur vorwärts schaut. Und ein Vorgänger der gewissenlosen Manager, die unsere Zeitgenossen sind, wenn auch harmlos im Vergleich zu diesen, ist sein Machtgebiet doch relativ bescheiden.
Wie die beiden andern Trilogie-Teile ist «Die besseren Zeiten» ein bedächtiges Buch, sprachlich präzise, ja geradezu ziseliert geschrieben. Christian Haller, 1943 in Brugg geboren und heute wohnhaft in Laufenburg, gelingt es, in seinen Sätzen die hoffnungsvolle und zugleich bedrohliche Atmosphäre der Nachkriegsjahre mit ihren tief greifenden sozialen und ökonomischen Umwälzungen einzufangen. Die politische, die soziale und die zwischenmenschlich-sozialen Ebenen verwebt er unaufdringlich miteinander und zeigt so die Auswirkungen der Umwälzungen bis ins Privateste hinein, in freundschaftliche und familiäre Beziehungen. Nichts ist privat, und das Privateste erweist sich als das Allgemeinste.
Rebellion mit Kaugummi
Der jugendliche Ich-Erzähler beobachtet (mit den Augen des mittlerweile erwachsenen Mannes), wie der Vater Ansehen und Selbstbewusstsein verliert. Die Mutter stammt aus gutbürgerlichem Hause in Bukarest (mit ihrer Familiengeschichte und den Erinnerungen an die rumänische Hauptstadt Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigt sich «Die verschluckte Musik») und hängt sich immer verzweifelter an die vergangenen «besseren Zeiten». Sie «verblasst» in der ländlichen Umgebung, während im kleinen Haus sich Möbel aus Massenanfertigung breitmachen: «Dieses neue, billige Zeug, das in dem Fabrikwürfel am Ausgang des Dorfes angeboten wurde: Möchtegern-Möbel für Leute ohne Geschmack.» Der ältere Bruder rebelliert mit Rockmusik und Kaugummi gegen die trauernden und erstarrenden Eltern, während sich der Jüngste, ganz anachronistisch, in archäologische Grabungen flüchtet, die er in seiner Freizeit betreibt. So driftet die Kernzelle der modernen westlichen Gesellschaft, die Kleinfamilie, immer mehr auseinander.
Christian Haller pflegt das bedeutsame Detail. An den neuen Produkten des wirtschaftlichen Fortschritts - Beton, Leica, Fahrradgangschaltung, Dauerwelle, Perlon, Nyltex, Plastiktischtüchern - ist der Verlust von Einzigartigkeit und alter Geborgenheit ablesbar. Dabei kann es passieren, dass der aus einer rückblickenden Perspektive geschriebene Roman ins Behäbige kippt. Doch die Nostalgie wird zunehmend konterkariert, insbesondere mit der Figur des Bruders kommen die faszinierenden kulturellen Neuheiten aus Amerika ins Spiel, die Riffs von Chuck Berry zum Beispiel.
Hallers Trilogie erzählt von der Geschichte der Schweiz, den Patriarchen und dem Verlust von Erinnerung nach dem Zweiten Weltkrieg in diesem Land, vom Schock des Wirtschaftsbooms und den grossflächigen Zerstörungen der sechziger Jahre. Ob der Autor nach Abschluss der Trilogie auch die Unterströmungen und folgenden Jahre aufspüren wird? Gespannt darauf dürfte man sein.
WOZ vom 26.10.2006
St. Galler Tagblatt
Das Land wird kleiner
Christian Haller erzählt in «Die besseren Zeiten» von der Aufbruchstimmung in der Schweiz nach dem Krieg
Nach «Die verschluckte Musik» und «Das schwarze Eisen» schliesst der Aargauer Autor Christian Haller mit «Die besseren Zeiten» seine Trilogie des Erinnerns ab. Der Roman erzählt aus der Zeit des Wirtschaftswunders.
EVA BACHMANN
Auf dem Titelbild eine Familie – Mutter, Kind, Vater. Ihre Kleider sind längst aus der Mode, das Bild ist ausgebleicht, aber die Gesichter schauen fröhlich, optimistisch gehen die drei vorwärts. «Die besseren Zeiten» lautet der Titel über dem Bild. Welches aber sollen denn diese besseren Zeiten gewesen sein oder allenfalls noch werden?
Aufbruch aus der Melancholie
Christian Hallers Roman beantwortet diese Frage vielfach. Für die Mutter, die Hauptfigur des Romans «Die Verschluckte Musik», sind die besseren Zeiten «das Vergangene, das sie <vornehm> nannte»: Es waren die Jahre ihrer Jugend in einer grossbürgerlichen Familie in Bukarest, von der ihr fast nur die Kommode aus Cöln geblieben ist – aber auch die hat beim Umzug von der Stadt aufs Land ihre Schrammen abbekommen, «Dümpfe», wie sie sagt.
Befohlen hat diesen Umzug der Grossvater, um den es im Roman «Das schwarze Eisen» ging: Ein Patriarch, der es mit seiner Eisengiesserei im Krieg zu Wohlstand und Ansehen gebracht hat. Im Mittelpunkt von «Die besseren Zeiten» steht jetzt der Vater. Auch für ihn ist das Land eine Demütigung. Aber er macht sich gemein mit dem Volk, das nach dem Ende des Kriegs in Aufbruchstimmung ist. «Man spürte die Zuversicht, es ginge den besseren Zeiten entgegen, in denen es genügend von allem und für alle geben würde.»
Statt gusseiserne Kuhtränken verkauft der Vater Betonmischer, Förderbänder und Kräne. Die Baubranche floriert, das Land wird von Jahr zu Jahr kleiner, Häuser und Fabriken werden hochgezogen. Strassen durchschneiden das Feld. «Felix' Eltern, wie andere Leute auch, nahmen Klappstühle und setzten sich an Sonntagen an den Strassenrand. Die Männer hatten ihre Stumpen und eine Flasche Bier, die Frauen das Strickzeug dabei. Man bestaunte die Modelle, die an einem vorbeizogen, als wäre die Strasse eine Textzeile. (. . .) Wir aber gehörten nicht zu denjenigen, die am Strassenrand sassen, wir benutzten die Fahrbahn, waren ein Wort auf dieser Zeile: Opel.»
Zubauen und Ausgraben
Vom Opel verbessert man sich zum Studebaker. Denn Amerika verspricht die bessere Welt, «Jazz, Wolkenkratzer, Cabriolets und Highways, Kühlschränke und Milkshakes» sind begehrenswert. Der Vater spürt das alles, ist aber zu dünnhäutig und zu leichtgläubig, um mitzuhalten. Er stürzt als Geschäftsmann mehrfach ab, rappelt sich wieder auf, stirbt irgendwann weg.
Der Bruder nimmt sich diese bessere Welt, bricht mit Rockmusik aus dem Kreis von «unsereinem» aus, geht nach Amerika. Der Ich-Erzähler selbst sucht seine besseren Zeiten zuerst radikal in der Vergangenheit: Er gräbt in tieferen Schichten nach Tonscherben, Splittern von Werkzeugen und anderen Zeugen früherer Kultur. Erst am Ende sieht er für sich bessere Zeiten in der Zukunft auftauchen: Er wird Schauspieler.
Ambiance
Christian Haller ist ein sehr sorgfältiger Schreiber. Er ist sparsam mit Motiven. Aber er fügt sie zu augenfälligen und weitverzweigten Bildkompositionen zusammen. So schlägt das Modegericht «Riz colonial» Verbindungen zum Zerfall des britischen Empire, zu den Mau-Mau-Rebellen, zur Atombombe. Auch Porträts kann der Autor mit wenigen Strichen zeichnen. Vom Emporkömmling Hackler zum Beispiel, dem Schweisser, der im billigen Anzug und mit unpassender Krawatte in den Roman eintritt, später aber Anrecht auf ein neues Leben zu haben glaubt und dafür Frau und Kinder im Stich lässt.
«Ambiance» heisst das Zauberwort der Mutter. Es bezeichnet dieses feine Zusammenstimmen, das man mit gutem Geschmack erwirken, aber niemals erzwingen und schon gar nicht im Möbelhaus erwerben kann. Hallers Text hat diese Ambiance. Das Wohnen ist denn auch ein wichtiges Leitmotiv im Roman, der mit einnehmender Sinnlichkeit von der Zeit des Wirtschaftswunders in der Schweiz erzählt. Von jenen Jahren, in denen man an «die besseren Zeiten» glaubte.
Christian Haller: Die besseren Zeiten. Luchterhand Literaturverlag, München 2006, Fr. 35.– Lesung in der Kellerbühne St. Gallen: morgen Di, 14. November, 20 Uhr
Passauer Neue Presse
Ein Meisterwerk deutschsprachiger Gegenwartsliteratur
Mit dem Roman „Die besseren Zeiten“ vollendet Christian Haller ein seit Gustav Freitag und dem frühen Walter Kempowski künstlerisch singuläres Erzählwerk zur Zeitgeschichte
Von Gerhard Beckmann
So etwas hat es in der deutschsprachigen Literatur seit langem nicht gegeben – einen Familien- und Generationenroman, der mit einer einverwobenen Geschichte der Entwicklung von Handel, Industrie und Arbeitswelt ein epochales Gesellschafts- und Mentalitätsportrait zeichnet. Da war bei uns in den 1980er Jahren eine Tradition abgebrochen, die jetzt der 61jährige Schweizer Schriftsteller Christian Haller mit einer superben Trilogie wiederbelebt hat. Sie findet in dem soeben veröffentlichten Roman „Die besseren Zeiten“ ihren Abschluss.
Es handelt sich um höchste moderne Erzählkunst, in der Vergangenes nicht „historisch“, sondern menschlich, sinnlich wie gedanklich auf seltene Weise präsent wird. Nicht zuletzt, weil Haller die Welt, in der wir heute leben, in einer Spurensuche nach Schlüsselereignissen der Vergangenheit aufzuschlüsseln versteht.
So erleben wir den Schleier der Melancholie über dem eigenen Einerlei in der Geschichte der Mutter des Ich-Erzählers. Als Tochter eines in der Fremde tätigen schweizer Textilindustriellen wuchs sie im Bukarest Anfang des 20. Jahrhunderts auf – in einer osteuropäischen Metropole (!) mit einem uns heute unvorstellbaren glanzvoll eleganten grossbürgerlichen Lebensstil. Der Erzähler geht ihr nach, nach - um zu begreifen, warum die Mutter in der puritanisch bieder engen Schweiz verkümmert und er selbst seine Existenz immer wieder trostlos grau empfindet.
Der zweite Band „Das schwarze Eisen“ rückt den Grossvater in den Mittelpunkt, einen vereinsamten verschlossenen Patriarchen, der ein unerbittlich strenges Regiment führt. Alle kennen ihn nur als den Selfmade-Man, der – quasi aus einem Nichts auttauchend - als einer der ersten erkannte, dass das Gold seiner Heimat die Wasserkraft ist. Er ist als eine Gründerfigur der Schweizer Wirtschaft hoch geachtet, initiierte er doch die Nutzung von Elektrizität – statt Kohle – beim Schmelzen von Eisen zu Stahl.. Und er wusste die Zeichen der Zeit vor den Weltkriegen zu deuten (und sich demgemäss politisch zu arrangieren), indem er frühzeitig ganz auf die Rüstungsindustrie setzte. Doch woher kam seine schier unerschöpfliche Energie und seine Fähigkeit, sich im Umgang mit allen rücksichtslos hart durchzusetzen? Woher seine Motivation zu dem kompromisslosen, gerade fanatischen Einsatz, sich und sein Land hoch zu bringen?
Seine engsten Angehörigen erfahren es – mit Entsetzen – erst nach seinem Tod, als sie einen Geheimkoffer mit Unterlagen zu den „fehlenden Jahren“ seiner Biographie entdecken. Es war der Wille des Grossvaters, der ihn trieb, der „Schande“ der Armut zu entkommen, welche seine Kindheit und Jugend ruinierte
Seine Eltern wurden nach dem Ausbrennen ihrer bescheidenen Wohnung ins Armenhaus gesteckt. Er musste, obwohl hochbegabt, früh die Schule verlassen und wurde, „nur mit einem Zwetschgenglas in der Hand“ in eine Kleinstadt verdingt. In seiner Not, „nichts zu haben, nicht mal genug, um zu essen, geschweige denn Geld, um auch nur das Notwendigste zu kaufen“, beging er an seinem Arbeitsplatz einen Diebstahl. Der Verhaftung und (ehrrührigen) Verurteilung entzog er sich durch die Flucht in die französische Fremdenlegion, von der er nach fünf Jahren – als Sergeant – (zurück in die Heimat) desertierte: brutal entschlossen, es in einem neuen Leben zu was zu bringen und durch eine Modernisierung der Wirtschaft die allgemeine Not der Bevölkerungsmehrheit zu überwinden, die ihn in ihren Strudel gerissen hatte. So enthält dieser Roman denn auch, wunderbar eingeflochten, eine kleine Geschichte der Elektrizität wie der Metall- und Maschinenbauindustrie. Und Christian Haller ruft eindringlich in Erinnerung, dass die Schweiz vordem ein armes agrarisch geprägtes Land war und erst nach dem Zweiten Weltkrieg wirklich reich geworden ist.
Und was sind sie nun, „die besseren Jahre“, um die es im dritten Roman dieser Trilogie geht? Von dem vorher gigantischen Unternehmungs- und Arbeitsethos, die den Aufschwung und heutigen Wohlstand begründeten, hat im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte so viel nicht überdauert. Es sind meist hochbezahlte „lackierte Angeber“, die öffentlich den Ton vorgeben. Es sind Mittelständler, die unter dem Eindruck der Leistungen ihrer Väter mit sich selbst und der Welt unzufrieden sind. Es ist eine Generation, bei der im Genuss der Kosumwelt Katerstimmung aufkommt – die Generation der heute 80jährigen, die einer von ihr noch erlebten Natur nachtrauert, die sie selbst in einer hemmungslosen Bautätigkeit zerstören half: „Das Dorf selbst begann zu wuchern, entwickelte eine Kraft, die von innen nach aussen drängte, gegen die das Grün, die abgezirkelten Felder, der Wald mit seinen Nebelfetzen nichts mehr vermochten....“
Für die vier Menschen im engeren Umkreis des Vaters schlägt die Utopie einer Beherrschung der Natur im Dienste menschlichen Glücks im letzten Teil der Trilogie um in Verlust. Ihnen fehlt die Durchsetzungsstärke, ein Leben nach den Masstäben eigener Erkenntnisse aufzubauen. Unter dem Druck der „Sachzwänge“ suchen sie Zuflucht in Träumen und Illusionen.
Gerhard Beckmann
Christian Haller, Die verschluckte Musik. Roman S., Euro 18,50
Christian Haller, Das schwarze Eisen. Roman. 313 S., Euro 22,50
Christian Haller, Die besseren Tage. Roman. 283 S., Euro 19,95
Alle im Luchterhand Literaturverlag, München.
DIE WELT; 27. Februar 2007
RÜCKKEHR DES SELFEMADE-MANNS
Der Schweizer Schriftsteller Christian Haller geht seiner Familiengeschichte nach und findet in der Armut den Motor umstürzender Modernisierung
Von Gerhard Beckmann
Die historische Kleinstadt Laufenburg liegt auf der Schweizer Seite des Hochrheins. Die Schönheit der umliegenden Landschaft ist in der Wohnung des Schriftstellers Christian Haller auf einem Ölgemälde des 19. Jahrhunderts zu sehen. Von ihr ist, wie dann ein Blick von Hallers Veranda zeigt, wenig geblieben. Die Felsen der Stromschnellen am Laufen sind weg gesprengt worden, die alte Schlucht ist in einem Stausee versunken: Ein Mitverantwortlicher für diese Vergewaltigung der Natur war Christian Hallers Grossvater. Die Aus-Sicht bildet den Ansatzpunkt für eines der bemerkenswertesten deutschsprachigen Romanwerke des letzten Jahrzehnts.
Der Grossvater zählt zu den Begründern der modernen schweizer Industrie, weil er als einer der ersten begriff: Das Gold seines Landes ist die Wasserkraft. So wurde die Schweiz (fast) unabhängig von Energie- und Rohstoffimporten. Zu diesem Zweck musste auch der historische Laufenburger „Rheinfall“ dem Stausee eines Kraftwerks Platz weichen.
Dieser Grossvater (väterlicherseits) war Christian Haller ein Buch mit sieben Siegeln. Woher rührte der manische, schier übermenschliche Leistungswille, in dem Eigennutz und Patriotismus, eine autoritäre Rücksichtslosigkeit bis ins Familiäre und ein Sinn für das Gemeinwohl übergingen?
Die Fragen trieben Christian Haller – einen studierten Zoologen, der lange die Abteilung für Soziale Studien am Gottlieb Duttweiler-Institut in Rüschlikon leitete, Dramaturg wurde und der Theater-Kommission der Stadt Zürich angehörte - zu einer Spurensuche. Sie fand ihren literarischen Niederschlag in einer Trilogie, die mit dem jüngst veröffentlichten Band {Die besseren Zeiten}zum Abschluss gekommen ist.
Es ist ein Romanwerk, das eine Familiengeschichte mit der Entwicklung von Industrie, Handel und Arbeitswelt verknüpft. Auf diese Weise zeichnet es ein epochales Gesellschafts- und Mentalitätsportrait, das an Gustav Freitags {Soll und Haben}, an Thomas Manns {Die Buddenbrooks} oder Walter Kempowskis {Tadellöser und Wolf} erinnert. Es bringt eine literarische Tradition zu neuem Leben, die in Deutschland während der Achtziger – mit den Romanen August Kühns – abgebrochen war.
Die Aussage mag befremden. Hat nicht die autobiographische Aufarbeitung ungewöhnlicher Familiengeschichten seit einiger Zeit bei uns Konjunktur – als Sachbuch wie in Wibke Bruhns {Meines Vaters Land} oder in Urs Widmers Romanen {Der Geliebte der Mutter} und {Das Buch des Vaters}? Gewiss. Bei ihnen handelt es sich jedoch, selbst wenn sie zeit-typisch sind, um {private}Dramen. Bei Christian Haller hingegen geht es im Kern nicht um eine penible Rekonstruktion seiner (wie immer aufregenden) Familienvergangenheit. i(hi(Darin DaVielmehr sucht er in ihr und durch sie fundamentale soziale und geistige Veränderungen seit Ende des 19, Jahrhunderts zu vergegenwärtigen.
Die Romane seiner Trilogie sind dementsprechend nicht, einer nach dem anderen, geradlinig chronologisch angelegt. Sie formen, wenngleich in sich abgeschlossen, drei Perspektiven, die zusammen ein Panorama aktueller Erinnerung ergeben.
{Das schwarze Eisen} (2004) geht den Spuren des Grossvaters nach und enthält eine – in der Gegenwartsliteratur einmalig – wunderbar eingeformte Geschichte der Elektrizität und der Industrialisierung des Landes. {Die besseren Zeiten} folgen dem Weg des Vaters und zeichnen den Naturausverkauf der Zeit von Beton und Spannplatte seit den fünfziger Jahren im Bauwahnsinn einer zügellosen Wohlstandsgesellschafnach. Der Erstling {Die verschluckte Musik}2001 verleiht dieser gesellschaftlich mentalen Reduktion durch eine Aussenansicht Relief: mit der Erinnerungswelt der Mutter, die aus der Welt einer ursprünglich Kölner Textilindustriellenfamilie stammt. Sie wuchs bis Ende der 1920er Jahre im grossbürgerlichen Milieu der osteuropäischen Kulturmetropole Bukarest auf und verkümmerte, wie im Band {Die besseren Zeiten}geschildert, nach ihrer Rückkehr im engen Horizont der Schweiz. Ihr Mann aber, der bis ins fünfte Lebensjahrzehnt in Abhängigkeit und unter der Knute des Seniors stand, vermochte nicht mehr die Kraft und Fähigkeit zu entwickeln, die Welt nach anderen Leitideen umzugestalten.
Doch woher bezog der Grossvater seine fast manische Energie, alle und alles nach seiner allein selig machenden Facon zu dominieren und nachhaltig prägen zu wollen? Sie rührte aus einer - in ganz Westeuropa – verdrängten Erfahrung, die heute wieder hochaktuell wird. Christian Hallers Grossvater war ein Selfmade-Man, der wie aus dem Nichts auf der Bildfläche auftauchte. Was ihn antrieb: Ein Sich-Wehren gegen die Armut, gegen Schande und soziale Ächtung. Was er nutzte, war die Entwicklung der Technik.
Seine Eltern waren ehrbare einfache Leute. Als ihre Wohnung ausbrannte, landeten sie im Armenhaus. Der – hochbegabte – Junge wurde aus der Schule genommen und „nur mit einem Zwetschgenglas in der Hand“ in ein Büro des nächstgelegenen grösseren Ortes verdingt. In seiner Not, „nichts zu haben, nicht mal genug, um zu essen, geschweige denn Geld, um auch nur das Notwendigste zu kaufen“, beging er an seinem Arbeitsplatz Mundraub, wurde dabei erwischt und entfloh der sicheren Verurteilung – sie hätte bürgerlich sein Ende bedeutet – in die französische Fremdenlegion. Fünf Jahre später - als Sergeant – desertierte er in die Heimat. Diese Vergangenheit kannte niemand – bis die entsetzte Familie nach seinem Tode in einem Koffer auf dem Dachboden die Unterlagen entdeckte.
Die Herkunft aus der Armut (und der Wille, ihr zu entkommen) ist nicht nur in der Schweiz aus dem Bewusstsein verdrängt worden, wenn über Gründergestalten berichtet wird. (In Preussen wurden 1912 – trotz einer im Vergleich hohen jahrzehntelangen Steigerung des Wohlstands – gemäss amtlicher Steuerstatistik 95 Prozent der Bevölkerung als „minderbemittelt“ eingestuft.) Unsere Wahrnehmungsweisen liegen tiefer im 19. Jahrhundert verwurzelt, als wir wahrhaben wollen. Christian Hallers Trilogie ist – auch wegen seiner überaus sinnlichen Darstellungsweise – ein zentraler Beitrag zur Erinnerungskultur.
Christian Hallers Romane {Die verschluckte Musik}, {Das schwarze Eisen} und {Die besseren Zeiten} sind 2001, 2004 und 2006 im Luchterhand Verlag erschienen. Der erstgenannte Band dieser Trilogie ist als Taschenbuch in der Sammlung Luchterhand erhältlich.