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Das schwarze Eisen
Als einen schweren und imposanten Mann hat der Enkel seinen Großvater kennengelernt, als eine beeindruckend schweigsame Person, die niemals das Haus verließ, ohne zuvor einen Filzhut aufzusetzen und einen Stock in die Hand zu nehmen. Schweigsam, das erfährt der Enkel später, war der Großvater immer gewesen, ein Mann, der ohne viele Worte zu verlieren seine Familie und am liebsten die ganze Schweiz wie geschmolzenes Eisen geformt hätte. Tatsächlich stammte dieser Mann aus ärmlichsten Verhältnissen. Mit nicht mehr als einem Glas eingeweckter Pflaumen als Proviant schickten ihn die Eltern in die Lehre. Unter dem Prägestock der Fremdenlegion schwor er sich dann, es den gelackten Herren zu zeigen. Als ein Niemand kehrt er zurück, aber mit dem festen Willen, aus Wasserkraft Strom zu gewinnen und mit dem Strom Eisen für Werkzeuge, Maschinen und Waffen zu erzeugen und die Schweiz in eine sauber arbeitende Maschine umzubauen.
Christian Haller hat die Geschichte eines Mannes geschrieben, der zu einer der prägenden Gestalten seines Landes wurde: ein Schweizer Unternehmer, für den nur Härte zählte und die Fähigkeit, sich durchzusetzen, und der am Ende seines Lebens eingeholt wird von der Erinnerung an seine »einfache« Herkunft und erleben muß, wie sein Traum vom Aufstieg der Familie zerbricht.
Der BUND, 25-8-2004>
Ein Umriss nur, doch übermächtig
Erinnerungen spielen die Hauptrolle in Christian Hallers neuem Roman «Das schwarze Eisen». Glanzvoll und wortgewaltig schreibt der Aargauer Schriftsteller Christian Haller die Saga einer Schweizer Industriellensippe weiter und verwebt darin die Wahrnehmung der eigenen Herkunft: Schatten einer glühenden Vergangenheit.
OLIVER RUF
Glut loderte hervor, als der Giesser in den feurigen Schlund stach. Die Gusspfanne wurde herangebracht. Stahl darin, weiss glühend, ein Stück Wüstensonne. Hans H. blickte hinein, in die Glut, die er auch in seiner Erinnerung trug, «ein Brennen, das sich an Felsen und an Steinen brach, sich auffächerte zu einem rostigen Rot». Vergangenes bemächtigte sich seiner. So gewaltig, so beharrlich. Funken stoben auf, ein Firmament vorm geistigen Auge. Der Mann trug schwer an seiner Last. Diese Erinnerungen. Sie spielen die Hauptrolle in seinem Leben – und in Christian Hallers neuem Roman, der uns davon erzählt. Es geht um den Grossvater des Ich-Erzählers: Hans H., «breitbeinig und eingewurzelt», «ein Brocken Fels».
Die H.s hiessen ehemals «Lämpe-Schniders». Sie gehörten zu den alten Ortsgeschlechtern und wohnten im Hinterdorf, in einer Bleibe, die eines Tages in Flammen stand. Die Familie fand sich im «Gullihaus» wieder. Sie hatten nichts, nicht einmal genug, um das Notwendigste zu zahlen. «Da!» sagte die Mutter deshalb zu Hans, «nimm, das ist alles, was ich dir geben kann. . . Und jetzt geh!» Der Sohn nahm das Glas mit den eingemachten Zwetschgen und ging zwei Tage nach Burgdorf, um Kommis zu werden, da er leserlich und sauber schrieb. Dort geschah dann die Sache, die ihm nur einen Ausweg bot: Mitten in der Nacht machte er sich auf, durch den Jura, Richtung Belfort, um ein «Bleu» im Orient zu werden. Légion étrangèreFünf Jahre verpflichtete er sich. Zum Dienst in der Wüste, im Posten der Söldner. Letztendlich ein Sergeant der Compagnie montée. Soldat Schnider, dem die Grande Nation das Ehrenzeichen eines Scharfschützen der Légion étrangère verlieh. Der sich ins Bein schoss und bis zuletzt am Stock ging. Der «es» nicht mehr los wurde, «diese Vergangenheit holte ihn ein, immer wieder, auf tückische, unvorhersehbare Weise». So legte er später das Tuch, das man auf das Gesicht der Ouled-Nail legte, wenn eine Hure in den Posten kam, auch auf das Gesicht seiner Gattin. Und sah in jeder vornehmen Frau jene junge Französin, die mit ihrem üppigen Dekolleté ihn erst angelächelt, dann verachtet hatte, am Hauptplatz von Sidi-Bel-Abbès, von wo aus er schliesslich über Tunesien und Sizilien desertierte.
Diese Zeit hinterliess einen weissen Fleck in seiner Biografie. Samt einem Schatten auf dem Herzen. Die verheimlichte afrikanische Welt sorgte dafür, dass Hans H. «das Leben in schwarzes Eisen goss». Zurück in der Schweiz wurde er vorstellig bei den Maschinen- und Stahlwerken in A., bei denen er sich ausserordentliche Verdienste um die Firma in den Jahren des Ersten Weltkrieges erwarb. Das Unternehmen konnte trotz schwieriger Beschaffungslage die Produktion verdoppeln. Jetzt war Hans H. Aktionär und Direktor der Gesellschaft. Den Erfolg des Konzerns, der sein eigener war, hatte ein perfektioniertes Stahlgussverfahren begründet, bei dem die Schmelze mittels Strom im Ofen geschieht. Die Elektrizität hatte sein Schicksal beflügelt, hatte ihn zu einer allseits geachteten Persönlichkeit gemacht.Erinnerung «hervorklamüsern» Überhaupt ist Elektrizität ein fester Bestandteil dieses Buches. Christian Haller nutzt sie zur Spiegelung der Story. Dabei hat er in seinem Roman «Das schwarze Eisen» nicht nur deren Genealogie versiert verwebt, sondern macht sie zum Leitmotiv der Handlung. Einmal ist etwa davon die Rede, dass sich schon Hans H.s Vater, «Schnider-Rüedu», an Bogenlampen und Illuminationen erfreute. Ein andres Mal bewahrt sie Hans H.s Sohn sogar das Sehen: «Eine Landschaft war in seine Augen gefallen», urplötzlich frass dunkler Nebel an dem Blick. Nur dünne Nadeln, die der Arzt ins Auge stach, die Stromstösse leiteten (eine «Kathodenelektrolyse»), schenkten ihm wieder den Tag: «Licht, so wunderbar leicht wie flüssiger Äther, eine lautere Durchsichtigkeit».
So kreuzt die Elektrizität das Leben der H.s auf eine fast mythische Weise. Und immer ist es dazu auch die Vergangenheit der Hauptperson, die glüht und deren Nachkommen vereinnahmt. Es lagen «Trümmer» in ihnen, die ihr Geschick bestimmten und die sie weiterreichten, «Brocken, allmählich zerschrotet zu einer Art Fossilienschutt». Übermächtig die Bilder, das Glas eingemachter Zwetschgen, die Französin, das Tuch. Ständig durchbrechen sie den Plot. Rückschauen und Blenden schiebt Haller übereinander, komplettiert das Puzzle, das Epos der Familie eines Schweizer Grossindustriellen. Die verkeilte Chronologie der Ereignisse lässt die Erinnerungen verkanten, die – stockfleckig geworden – Haller dem Erzähler nur häppchenweise verrät. Der muss sie «hervorklamüsern, zusammenimaginieren». Das «Kopfalbum» entsteht, Kaffee trinkend, auf der Veranda, mit «Grossvaters Bild» im Sehfeld: «Das Wehr, die Schützen, die Halle der Generatoren vor Jurazug und Hochkamin».Bilderfülle, BildersturmLiterarisch prächtig, vollkommen wortgewaltig überdenkt Haller die Wahrnehmung der eigenen Herkunft. Die prägt seine Figuren ganz ausdrücklich, neben dem Grossvater und Vater auch jene der Mutter des Erzählers. Sie vermisst ihr früheres Dasein schmerzlich, sehnt sich zurück nach Bukarest, nach «ihrem» Rumänien, zu den «Dingen vor der Zeit».
Damit schreibt Haller die Saga weiter. Denn das Fatum der Familie der Mutter hat er bereits in seinem Roman «Die verschluckte Musik» (2001) beschrieben. Hier zeichnet sich ein Thema ab, das neben Haller (geb. 1943 in Brugg) ein zweiter Autor der schweizerischen Gegenwartsliteratur aufgenommen hat. Auch Urs Widmer (geb. 1938 in Basel) hat mit «Das Buch des Vaters» (2004) und «Der Geliebte der Mutter» (2000) dem jeweiligen Elternteil seines Erzählers gedacht. Die Perzeptionsästhetik beider Schriftsteller ist grosse Erzählkunst: eine Bilderfülle, ergreifend dicht und überwältigend.
In Hallers «Schwarzem Eisen» offenbart sich im Abschluss ein Ikonoklasmus. Dem Kraftwerk, «Grossvaters Bild», dem «Palast der Turbinen», seiner «Utopie», wird ein anderes Bild gegenübergestellt: «Ein unscharfes, schattenhaftes Schwarzweissphoto, graue Würfel, zwei parallele, geschwungene, dunklere Linien, Karrenspuren in einem weichen Untergrund, rechts, auf einem Buckel, eine Gestalt – ein Umriss nur wie aus dem Gleichgewicht gebracht: Anfang einer Bewegung, die nie enden würde, weil unklar blieb, zu welchem Abschluss sie gekommen wäre.» Unscharf bleibt manches, die Personen, deren Nachnamen abgekürzt werden, die Orte, denen es nicht besser ergeht. Nur die Glut lodert deutlich hervor. Aus der Wüste, durch den Ofen, in Hans H.[i]
Das Buch Christian Haller: «Das schwarze Eisen». Roman. Luchterhand, München 2004. 320 Seiten, Fr. 39.50.
Aargauer Zeitung, 26-8-2004
Eine poetische Familienarchäologie
«Das schwarze Eisen» Christian Hallers Spurensuche mündet in einen grossen RomanNach der Beschwörung der untergegangenen grossbürgerlichen rumänisch-schweizerischen Mutterwelt («Die verschluckte Musik», 2001) stellt sich Christian Haller jetzt weit ausholend und tiefschürfend der unbequemen Geschichte des Grossvaters väterlicherseits.
Hans Ulrich Probst
Nicht aus privater Obsession, sondern aus gesellschaftlichem Interesse betreibt der studierte Zoologe und Paläontologe Haller akribische Familienarchäologie; wenn er jetzt den Lebensweg seines Grossvaters väterlicherseits nachzeichnet, so sucht er nach kollektiv gültigen Parametern für ein abenteuerliches individuelles Schicksal. Dem Typischen, dem Exemplarischen gilt erst seine Forscherneugier, dann seine poetische Energie. Und so ist «Das schwarze Eisen», fundiert recherchiert und brillant gestaltet, zu einem packenden und literarisch eindringlichen Dokument schweizerischer Industrie-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geworden.
Selfmademan der Gründergeneration
Hans H. begegnet dem Leser erst als einschüchternd-imposanter, schweigsam-verschlossener Grossvater, ehe wir ihn auf dem inszenierten Hochzeitsfoto von 1908 sehen, wo er, gleichsam aus dem Nichts aufgetaucht, bereits als tatkräftiger junger Direktor eines Eisen- und Stahlwerks im Aargau posiert. Konsequent setzt der Selfmademan auf die neu im grossen Stil nutzbare Elek- trizität und hat Teil an der Erfolgsgeschichte der helvetischen Elektro- und Eisenindustrie. Die Schweiz, bis zur Jahrhundertwende ein karges agrarisch geprägtes Auswandererland, erlebte damals dank Wasserkraft und neuer Leitungstechnologien einen heutigen Ölfunden vergleichbaren Boom. Hans H. steht auf jenem strammen Foto, das die Muss-Heirat, den Zustand der ungeliebten Braut geschickt kaschiert, für jene Gründergeneration dynamischer, autoritärer, risikobereiter Unternehmer, welche das Kapital mehren, aber auch das Land vorwärts bringen wollten.
Seine Herkunft und Vergangenheit freilich bleiben selbst seinen Nächsten, der Gattin und den drei Söhnen, zeitlebens verborgen, obwohl sie der eigentliche Schlüssel sind zum Verständnis sowohl seiner unbeugsamen, ja brutalen Härte im Betrieb - «aufräumen und abfahren» heissen seine Lieblingsausdrücke - als auch seiner rücksichtslosen Dominanz gegenüber den Söhnen, für die der Patriarch bis ins Erwachsenenalter entscheidet, wo sie zu arbeiten und zu leben haben.
Eine Annäherung ans Vergessene
Der Enkel und Autor, der jetzt Licht in dieses Dunkel bringt, lässt die Lesenden nicht lange rätseln: Christian Hallers Darstellung setzt nicht auf die Spannung der Enthüllung, sondern auf die facettenreiche Annäherung ans Vergessene und Verdrängte, auf das subtile Nachzeichnen der geraden und krummen Wege, die dieser «gewaltige Mensch in seiner Unzugänglichkeit» gegangen ist: Geboren als Sohn eines mittellosen Störschneiders im Wynental, wird Hans H. nach des Vaters frühem Tod als Verdingbub weggegeben, ein Los, dessen Härte wir bis heute erst erahnen. Trotz bester Schulleistungen bleibt ihm der ersehnte Lehrerberuf verwehrt (den der Autor und Lieblingsenkel dann zunächst gewählt hat). Mit einem Einmachglas Zwetschgen in der Hand schickt ihn die Mutter zu einer Bürolehre nach Burgdorf; nach einem unerlaubten Griff in die Kasse flieht er in die Fremdenlegion, wo ihm mit Glück und Geld die Desertion gelingt.
Diese Erfahrungen, Armenhaus und Fremdenlegion, bleiben die bestimmenden, der Umwelt indes verborgenen Traumata dieser Figur, welche Haller findend und erfindend erschafft, in raffinierter Vermischung von Fakten und Fiktion. Gebannt, mitunter auch abgestossen folgt der Leser diesem Mann von unbeugsamer Härte, immun gegenüber allen «lackierten Angebern», meist mit Goldstücken in der Tasche, die er auch statt Äpfel an den Weihnachtsbaum hängt und den Enkeln je nach Schulzeugnis schenkt - Symbol dafür, dass er es geschafft hat. Dennoch bleibt ihm am Ende bloss das Gefühl grosser Vergeblichkeit, die sich «wie Schimmel in all das Erarbeitete und Erreichte» frisst. Denn der Zenit der Eisenindustrie, der Hans H. mehr als 40 Jahre gedient hat, ist überschritten. Und er muss erkennen, dass seine stets instrumentalisierten Söhne, denen er (Traum des Besitzes) ein Eisenwerk gekauft hat, nicht reüssieren werden, dass von ihm wenig bleiben wird
Bilder aus dem «Kopfalbum»
Hallers hochpoetisches Projekt, das auch wunderbare Echos und Spiegelungen zum Vorgängerbuch «Die verschluckte Musik» enthält, unternimmt in 26 sublim komponierten und motivisch stringent verbundenen Kapiteln den Versuch, eine Gesamtsicht auf diese so imposante wie schillernde Figur und ihre Zeit zu gewinnen.
Angesichts der kraftvollen Helden erstaunt nicht, dass darob die anderen Figuren eher am Rande verbleiben. Da drängt sich ein weiteres Buch für die Lesenden förmlich auf. Was jetzt vorliegt, ist allemal faszinierend: Wie Haller in immer neuer Perspektive, mit immer neuen schlagenden Bildern aus seinem «Kopfalbum» in sprachlich sorgfältig entworfenen Szenen sein Porträt dieses «in seiner Einsamkeit anrührenden» Mannes entwickelt und zugleich unaufdringlich zur vielschichtigen Darstellung der Gesellschaft, der Epoche weitet, davon hat man nach dreihundert Seiten längst nicht genug.
Christian Haller: Das schwarze Eisen. Roman. Literaturverlag Luchterhand, München 2004. 313 S., 39.50.
© AZ Medien Gruppe - Alle Rechte vorbehalten Gedruckt am 26.08.2004
St. Galler Tagblatt, 16-9-2004
Ein Umriss nur, doch übermächtig
Das Eisen gebrochen
Christian Haller erzählt im Roman «Das schwarze Eisen» die Geschichte seines Grossvaters
Hans H. machte seinen Weg vom Armenhaus auf einen Chefsessel in der Stahlindustrie. Sein Leben wird im Buch von Christian Haller zu einem Stück Industrie- und Mentalitätsgeschichte der Schweiz.
Eva Bachmann
«Der Brand erinnert an die Hölle / Errette uns oh Herr daraus / Errette meine arme Seele / Dass sie nicht kommt ins Höllenhaus.» Der fromme Leitspruch hat eine bittere Fussnote: «Eintrag in der Familienbibel der H.s, die alles taten, damit der Vers ein frommer Wunsch blieb.» Da will einer abrechnen.
Christian Haller greift im neuen Roman die Familie seines Vaters auf. Im Gegensatz zur Muttergeschichte, die er in «Die verschluckte Musik» mit Poesie und Nostalgie erzählt hat, prägt die Vatergeschichte eiserne Härte.
Zurechtgehämmert
Im Zentrum steht der Grossvater, Sohn des «Lämpe-Schniders», der mit nichts als einem Glas Zwetschgen aus dem Armenhaus im Wynental weggeschickt wurde und doch Direktor der Maschinen- und Stahlwerke in Aarau wurde. Nicht nur das Vertrauen in die Elektrizität als Energie der Zukunft stand hinter seinem Erfolg, er hatte auch früh die Zeichen der Zeit erkannt: Sie standen auf Krieg. Und sein Werk konnte den Stahl dazu liefern. Den Grund für das sichere Gefühl des Grossvaters findet die entsetzte Familie nach seinem Tod in einem versteckten Koffer: Der Mann ohne Herkunft hatte als Sergeant in der Fremdenlegion gedient. Von da kommt die Härte ins Gesicht, das wirkt, «als wäre es von den täglichen Widrigkeiten zurechtgehämmert worden». Von da seine Verachtung für «lackierte Angeber», mit denen man «abfahren und aufräumen» muss - seine Lieblingsworte. Von da auch sein Befehlston, mit dem er seine Söhne ebenso wie seine Arbeiter dirigierte; er bestimmte die Form, in die er Menschen goss wie schwarzes Eisen.
Nach und nach
So hart sind die Fakten - doch eine gnadenlose Abrechnung wird nicht daraus. Christian Haller bricht das Eisen auf mit seinem Erzählen. Er verwendet ganze Abschnitte darauf, die Landschaft dieses Gesichts zu beschreiben oder den Moment, «da Grossvater sich in Bewegung setzt». Es liegt eine Zärtlichkeit darin, die Sympathien weckt - mehr als zum Vater, dem Feinfühligen, über dessen Leben auch viel zu erzählen ist: die romantische Liebesgeschichte oder die packend geschilderte Krankengeschichte der vorübergehenden Erblindung. Christian Haller liebt das Innehalten und Betrachten eines Details. Er führt ein Sujet ein und kehrt später immer wieder zu ihm zurück. Er kreist um seine Stoffe, wählt jeweils einen neuen Ausschnitt und vertieft sich in ihn. So werden die Bilder nach und nach vervollständigt. Ein gewagtes erzählerisches Verfahren, doch meisterhaft eingelöst. Der Autor hat mit «Das schwarze Eisen» einen Roman vorgelegt, der in der Fortbewegung seiner Geschichte sehr eigenständig ist und dieses Kreisen von den grossen Linien über die Motive bis zur Wahl der Worte durchführt.
Elektrisiert
«Das schwarze Eisen» ist nicht nur eine Familiengeschichte. Mit Figuren wie General Wille und Hitler kommt die Politik in den Roman, mit Alfred Escher Industriegeschichte. Die technische Entwicklung fasziniert: Eins von Hallers wiederkehrenden Sujets ist Laufenburg, wo er heute wohnt und wo am Anfang des 20. Jahrhunderts der Rhein gestaut und ein Kraftwerk gebaut wurde. Die Nutzung von Elektrizität brachte der Industrie einen Entwicklungsschub. Der Preis war die Zerstörung der romantischen Schlucht bei Laufenburg, Motiv unzähliger Bilder und später auch Fotos. Kunst und Technik, Politik und Familie - «Das schwarze Eisen» ist ein gross angelegter Roman, der Historisches erzählt und es in die Gegenwart nachklingen lässt. Dabei bleibt das Lesen spannend bis zum Schluss, bis zum Lüften der letzten Familiengeheimnisse.
Tages Anzeiger, Zürich, 25-8-2004
Titelvorschlag: Vom Glück, die Natur zu bändigen
Christian Hallers Roman "Das schwarze Eisen" erzählt von einem ungestümen Aufsteiger und lässt eine untergegangene Schweiz auferstehen.
Von Benedikt Scherer
Kann uns eine solcher Protagonist noch interessieren? Ein Urgestein von einem Schweizer, der, aus ärmsten Verhältnissen kommend, alles unternimmt, um sich, seine Familie und sein Land hochzubringen? Der dann am glücklichsten ist, wenn er auf eine gezähmte Landschaft blickt, die von Stauseen, Wehren, Elektrizitätsmasten durchzogen ist? Wenn er eine Heimat sieht, die Natur in Energie verwandelt und Energie in Geld? Wenn er ein Vaterland bewohnt, in dem alle in Wohlstand leben, Armenhäuser überflüssig sind und kein Begabter zu kurz kommt?
Der 1943 in Brugg geborene Christian Haller beschreibt in seinem neusten Roman eine Schweiz, wie sie sich von 1880 bis 1950 präsentierte: ein Land, das auf Fortschritt, Technik, Unternehmertum setzte. Und in dem einer wie Hans H. vorwärts kommen konnte, wenn er nur wollte. Seine Karriere beginnt 1908 mit dem Einstieg in ein Metall- und Maschinenunternehmen, wo er schnell zum Direktor avanciert. Unter seinen Händen floriert die Firma. Er manövriert sie unbeschadet durch zwei Weltkriege und mehrere Rezessionen hindurch. 1948 geht er als betuchter und angesehener Mann in Pension. Hinter seiner Karriere steckt nicht nur ein aussergewöhnlicher ökonomischer Instinkt. Was ihn antreibt, ist ein ungeheurer Wille: der Wille, die "Schande" seiner Vergangenheit zu tilgen.
Als Knabe muss er mit ansehen, wie die Eltern nach dem Brand ihrer Wohnung ins "Gullihaus", ins Armenhaus, verfrachtet werden. Er übersteht die demütigende Zeit als Verdingbub. Später verschafft man ihm eine eine Stelle als Schreiber in einem Büro, seiner "schönen Handschrift" wegen; weiter zur Schule gehen darf er nicht. Am Arbeitsort begeht er einen Diebstahl, der ihn zur Flucht in die Fremdenlegion zwingt. "Sie konnten nicht wissen, was das heisst, nichts zu haben, nicht mal genug, um zu essen, geschweige denn Geld, um auch nur das Notwendigste zu kaufen." Um diesen einen, gebetmühlenartig repetierten Satz kreist seine gesamte Existenz.
Dass sie uns über 300 Seiten hin fesselt, hat mit hoher Erzählkunst zu tun. Als wir Hans H. das erste Mal begegnen, steht ein seufzender Greis vor uns, ein leidender und einsamer Mann. Die Leser verdanken es der nicht linearen, die Zeiten verschmelzenden Erzählweise, dass sie von Anfang an einen gespaltenen Charakter zu Gesicht bekommen: den zupackenden Tatmenschen, der mit allem "aufräumen" und "abfahren" will, und den melancholischen Grübler. Und je länger der Roman dauert, desto komplexer wird der Tatmensch und desto abgründiger der Grübler. Im Erleben dieser Figur stösst man auf ein Empfinden, das heute fremd anmutet: auf das Glücksgefühl, das aus der Naturbändigung und –beherrschung kommt. Nicht zufällig nehmen detaillierte Beschreibungen technischer Geräte ungewöhnlich viel Raum ein; in die Handlung verwoben ist eine kleine Geschichte der Elektrizität und der Metall- und Maschinenindustrie.
Der Roman erstreckt sich über drei Generationen. Der Ich-Erzähler, der dem Geheimnis seines Grossvaters Hans H. nachspürt, lebt in unserer Gegenwart. Und er, der von der Terrasse seines Hauses die verbauten Flussufer mit Unbehagen beobachtet, weiss auch um die tristen Folgen, die ein dämonischer Gestaltungswille nach sich zieht. Keiner von den Söhnen des Grossvaters bringt es zu einem eigenen, selbst bestimmten Leben. W., der Vater des Ich-Erzählers, ist umso zufriedener, je weiter er sich vom Einflussbereich des Direktors der "Maschinen- und Stahlwerke in A." entfernt. Bei einem Kuraufenthalt im Engadin, der nach einer Augenoperation nötig geworden ist, atmet er Licht, Luft und Weite. Er kommt mit der Bohème von Sils-Maria in Kontakt, mit einer Welt der Kunst und des Geistes, auf die kein tonnnenschwerer Stahl drückt. Ein vergleichbares Gefühl von Autonomie wird er nur noch einmal erleben, von 1948 bis 1951, in der Stadt B., wo seine Schwiegereltern leben. Hier bringt er ein marodes Unternehmen der Holzindustrie zum Blühen. Als 40jähriger hat er zum ersten Mal selbstständigen beruflichen Erfolg.
Seiner Frau Ruth ergeht es ähnlich. Aus Bukarest stammend und in wohlhabender Familie aufgewachsen, bleibt ein Hauch mondäner Eleganz auch in den Städten des Schweizer Mittellandes an ihr haften. Doch unter der Fuchtel des tyrannischen Schwiegervaters wird er immer schwächer, und während des Zweiten Weltkriegs verliert er sich ganz. Der Roman findet ein schönes Bild, um den Gegensatz der zwei Welten zu veranschaulichen: Ruths Gang ist leicht und anmutig. Sie bewegt sich so, wie sie es einst auf den splendiden Trottoirs Bukarests gelernt hat. Hans H. dagegen geht am Stock, blickt zu Boden, wenn er ein Fuss vor den andern setzt, bäurisch und schwerfällig, als drückten die Tornister der Fremdenlegion noch immer auf seine Schultern.
Der Roman wird von einer Fülle lebendiger und tiefer Figuren bevölkert. Er ist Schweizer Sozial-, Wirtschafts- und Technikgeschichte in einem. Das Geschehen ist virtuos eingebunden in ein Nachdenken über die Schicksalshaftigkeit des Herkommens und die Dialektik des technischen Fortschritts. Das alles macht "Das schwarze Eisen" zu einer herausragenden Erscheinung des Schweizer Bücherherbsts.
NZZ am Sonntag, 26-9-2004
Ein Einmachglas Zwetschgen als Startkapital
Christian Haller legt mit "Das schwarze Eisen" einen grossen Schweizer Roman vor. Von Manfred Papst
Vor drei Jahren erschien Christian Hallers autobiografisch inspirierter Roman "Die verschluckte Musik". Er führte in die Welt der Mutter, die als Tochter eines Schweizer Textilindustriellen in Bukarest eine grossbürgerliche Kindheit verbracht hatte; fremder Zauber, Glanz und Weite leuchteten dem Erzähler von dort in die Kindheit.
Nun wendet sich der 61-jährige Aargauer Erzähler der ganz anderen Welt seines Grossvaters väterlicherseits zu. Sein Interesse erschöpft sich indes weder im Familiengeschichtlichen noch im Psychologischen. Haller, der Biologe und Paläontologe, zielt aufs Exemplarische: in diesem Fall auf ein Stück Schweizer Industrie-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
War im "Mutterbuch" der Abstieg einer kultivierten Kaufmannsfamilie zu verfolgen, so tritt hier aus dem Nebel des "Stumpenlands" ein Aufsteiger auf den Plan: ein vierschrötiger Mann, der als Kind eines Störschneiders im Wynental aufwächst, sich vom Armenhäusler und Verdingbub hocharbeitet und als Unternehmer in der Stahlindustrie reich wird - bevor er am Ende genau durch die Eigenschaften, die ihm zum Erfolg verholfen haben, sein Lebenswerk wieder gefährdet.
Dieser Grossvater begegnet uns als eigensinniger, bisweilen aufbrausender, meist aber verschlossener Patron. Selbst für seine Frau und seine drei Söhne gibt es "weisse Flecken" in seiner Geschichte. Was da verborgen und verdrängt, verleugnet und vergessen wurde, will der Enkel herausfinden. Es geht ihm aber nicht ums Enthüllen, Abrechnen und triumphierende Bescheidwissen, sondern um eine sorgsame Spurensuche, die uns den Grossvater seltsam nahebringt, ohne dass er in seiner - gestaltenden wie zerstörerischen - Urgewalt verharmlost würde.
Wir sehen ihn zunächst als Knaben, der mit nichts als einem Einmachglas Zwetschgen in der Hand in eine Bürolehre nach Burgdorf geschickt wird. In einem unbeobachteten Moment langt er dort in die Kasse des Lehrmeisters und muss in die Fremdenlegion fliehen. Fünf Jahre verbringt er in Nordafrika, bevor er desertiert und in die Schweiz zurückkehrt. Das alles bleibt - auch vor der Familie - sein Geheimnis. Aus diesem aber erwächst ihm die Kraft, ein Familienimperium zu errichten und zu regieren, als er nach seiner Rückkehr bei den Maschinen- und Stahlwerken in A. vorstellig wird und den durch die Entdeckung der Wasserkraft entstandenen industriellen Boom auszunützen versteht. Er weiss, was Krieg und was Armut ist. Die anderen nicht. Deshalb bleibt er auch als Direktor misstrauisch gegenüber den "lackierten Angebern" um ihn herum.
Im Schatten dieser übermächtigen Figur steht der Vater des Erzählers, eine empfindlichere, auch unsicherere Natur, ein Mann zudem, der in der Mitte seines Lebens plötzlich mit einer Erblindung zu kämpfen hat, die mehrere Operationen sowie Sanatoriumsaufenthalte nötig macht. Zwar gelingt es ihm dennoch, für seine elegante, weltläufige Frau und die Kinder eine eigene Existenz aufzubauen. Doch die Fäden zieht bis zum Tag seines Todes der Grossvater. Als er dem Familienrat mitteilt, dass er eine Fabrik gekauft habe, die seine Söhne zu übernehmen hätten, gibt es keinen Widerspruch.
Auf den ersten Blick wirkt die enge, arbeitsame Aargauer Welt dieses neuen Buches von Haller karger als die Bukarester Pracht. Doch auch hier beschwört der Autor die Magie einer untergegangenen Welt so präzis wie eindringlich. Wie gelingt ihm das?
Sein Stil hat etwas Erratisches. Es stellen sich kaum Vergleiche mit anderen Schriftstellern ein. Viel leichter kann man sagen, wie Christian Haller nicht schreibt. Alles Gefällige geht ihm ab. Er macht keine Schnörkel. Nichts in seiner Prosa ist duftig und leicht hingeworfen. Er ist auch kein Autor, der seine Virtuosität feiert. Seine Sätze sind streng gefügt und dicht, manchmal kantig, dabei aber anschaulich, sinnlich und klar. Sie fügen sich ineinander, wie Eisenteile in einem Stahlwerk ineinander gefügt werden. Haller braucht den Widerstand des Materials. Er schreibt ernst, aber nicht angestrengt - und auch nicht ohne Humor: Er entdeckt ihn in den Dingen selbst.
Auf eine versteckte Weise ist Haller sogar virtuos. Am besten sieht man das an den Passagen über die Fremdenlegion, den weissen Flecken in der Biografie des Grossvaters. Wo immer sie im Verlauf des komplex gebauten Buchs auftauchen, werden sie mit Motiven und Personen aus Friedrich Glausers Legionsroman "Gourrama" verwoben, ohne dass die Montage sich im gebildeten Spiel erschöpfte.
"Das schwarze Eisen" ist zudem auf jeder Seite ein Stück kenntnisreich und kritisch beschriebene Schweizer Geschichte. Aber wir haben nie das Gefühl, dass der Autor uns belletristisch verpackten Nachhilfeunterricht erteilen will, wie er etwa in Otto F. Walters "Zeit des Fasans" an uns vollstreckt wird: Persönliches und Historisches gehen völlig ineinander auf._Christian Haller schreibt nicht "spannend" im trivialen Sinn, und man verrät wenig über seine Bücher, wenn man ihren Plot preisgibt. Das "Spannende" ereignet sich in den einander überlagernden Bildern, im Rhythmus der Sätze. Ihre Textur, die immer nah an der gesprochenen Sprache bleibt, hat die Kraft bewegten Wassers.
Die kontrastive Anlage der beiden erwähnten Romane ist augenfällig. Als zentrale Motive stehen sich Erinnern und Verdrängen gegenüber. Ihnen entsprechen die literarischen Verfahren, ihnen entspricht bis ins Detail die Motivstruktur. Im "Mutterbuch" ging es darum, eine Überfülle flutender Bilder in eine Form zu bringen, im "Vaterbuch" geht es darum, aus disparaten Mosaiksteinen ein plastisches Bild zusammenzusetzen. In beiden Fällen überzeugt das Ergebnis. "Das schwarze Eisen" muss den Vergleich mit Inglins "Schweizerspiegel" nicht scheuen.
Zürich, 15. 9. 2004
Einführung Christian Haller, Literaturhaus Zürich, 15.9. 2004 durch
Manfred Papst
Meine sehr geehrten Damen und Herren
Auch ich begrüsse Sie ganz herzlich zu diesem Abend, in dessen Mittelpunkt also Christian Hallers neuer Roman "Das schwarze Eisen" steht. Sie können sich mit mir auf die nächste Stunde freuen, denn wir haben es hier mit einem ganz ausserordentlichen Werk zu tun, das zum einen die Familiengeschichte des Autors erkundet, uns zum andern aber auch ein veritables Epochenbild der Schweiz vermittelt. Aus den Anfangskapiteln dieses Buches werden wir Christian Haller einige Schlüsselpassagen lesen hören; im anschliessenden Gespräch wollen wir versuchen, einige Spuren vom Autor zum Text hin zu legen, und im Anschluss an die Lesung einer zweiten, ganz kurzen Textpassage sind Sie eingeladen, das Gespräch durch Ihre eigenen Beiträge zu bereichern. Zunächst aber darf ich Ihnen kurz berichten, worum es es in dem Text geht und wie es mir mit ihm ergangen ist.
Wir können "Das schwarze Eisen" auf zweierlei Weise lesen: als eigenständiges Werk oder als Teil eines Diptychons. Vor drei Jahren hat Christian Haller nämlich den autobiographisch inspirierten Roman "Die verschluckte Musik" veröffentlicht. Er befasst sich mit der Mutter des Autors, die als Tochter des Schweizer Direktors einer Textilfabrik eine grossbürgerliche Kindheit im alten Bukarest verbrachte; die Weite, der Glanz, auch der fremdartige Zauber dieser Welt leuchteten dem Erzähler in seine Schweizer Kindheit.
Neben dieses Mutterbuch tritt nun das Vaterbuch. Natürlich denken wir bei dieser Konstellation an Urs Widmers in ähnlichem Zeitabstand, nämlich 2000 und 2004, erschienene Werke "Der Geliebte der Mutter" und "Das Buch des Vaters". Die Parallele ist verführerisch, doch der Ansatz ist jeweils ein anderer:
Geht es bei Widmer ganz wesentlich um diese beiden Individuen, so hat Haller den ganzen Familienverband und noch mehr im Sinn. Zwar spielt der dominante Grossvater, von dem wir sogleich noch mehr hören werden, eine Hauptrolle, aber es ist nicht die einzige; auch der Vater des Autors, der sein halbes Erwachsenenleben lang Sohn bleibt, seine beiden Brüder, seine Frau, seine Kinder und weitere Verwandte treten in unser Blickfeld.
Das Interesse des Erzählers erschöpft sich indes weder im Psychologischen noch im Familiengeschichtlichen, ob man den Begriff nun in einem heimatkundlichen oder in einem analytisch-soziologischen Sinn versteht. Es zielt auf das Exemplarische im Einzelnen. Vergessen wir nicht, dass Haller, der Paläontologe und Zoologe, den Blick stets AUCH aufs Allgemeine richtet! Deshalb ersteht in seinen Figuren, so stark sie als individuelle Charaktere konturiert sind, auch das Übergeordnete, nämlich ein Stück schweizerischer Industrie- und Sozialgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
In der Geschichte vom schwarzen Eisen vollzieht sich die umgekehrte Bewegung wie im Mutterbuch. Hatten wir es dort gleichsam mit einer Buddenbrook-Welt zu tun, also mit dem Abstieg einer grossbürgerlichen Kaufmannsfamilie, mit reich ausstaffierten Interieurs und den entsprechenden Überzeugungen, so tritt uns hier ein Aufsteiger entgegen: Ein vierschrötiger, zielstrebiger Mann, der als Armenhäuslerkind eines Störschneiders im aargauischen Wynental und Verdingbub die denkbar schlechtesten Vorraussetzungen einer Karriere hat, sich aber hocharbeitet und als Unternehmer in der Stahlindustrie zu einem reichen Mann, ja sogar zu einem nationalen Machtfaktor wird - bevor er am Ende genau durch die Eigenschaften, die ihm zum Erfolg verholfen haben, sein Lebenswerk wieder gefährdet.
Diesen Grossvater sehen wir mit den Augen des Enkels. Wir sehen einen eigenwilligen und bisweilen aufbrausenden, meist aber verschlossenen Mann. Selbst für seine Frau und seine drei Söhne gibt es "weisse Flecken" in seiner Geschichte. Was da verborgen und verdrängt, verleugnet und vergessen wurde, will der Enkel herausfinden. Es geht dabei aber nicht ums Entlarven und Enthüllen, ums Abrechnen und triumphierende Bescheidwissen, sondern um eine sorgsame Spurensuche und dabei auch immer wieder um kritische Selbstvergewisserung. Dadurch kommt uns der Grossvater nahe, ohne dass er in seiner gestaltenden und zerstörerischen Kraft verharmlost würde.
Eher beiläufig erfahren wir, dass er seine Frau heiraten MUSSTE, weil sie schwanger war, und dass er eigentlich eine andere liebte, und wenn wir noch tiefer unten in seiner Vergangenheit anlangen, begreifen wir allmählich, was zuvor geschah, nachdem er von der Mutter mit nichts als einem Einmachglas voll Zwetschgen in der Hand in eine Bürolehre nach Burgdorf geschickt worden war: In einem unbeobachteten Moment hat er in die Kasse des Lehrmeisters gelangt. Mit dem gestohlenen Geld in der Hand sah er keine andere Möglichkeit mehr, als abzuhauen und in die französische Fremdenlegion zu gehen, wo er fünf Jahre lang diente, bevor ihm Gras über seine Geschichte gewachsen war und ihm die Desertion sowie die Flucht zurück in die Schweiz gelang.
Diese Erfahrungen - Armenhaus, Deklassierung, Fremdenlegion, Flucht - hat der Grossvater niemals vergessen - auch nicht, als er nach seiner Rückkehr bei den Maschinen- und Stahlwerken in A., vermutlich Aarau, vorstellig wird und den durch die Entdeckung der Wasserkraft entstandenen Boom in der Schweizer Industrie für seine Geschäfte auszunützen lernt. Er entwickelt ein neues Stahlgussverfahren, bei dem der Stahl mithilfe von Strom in einem Ofen geschmolzen wird, und wird Aktionär, ja sogar Direktor der Gesellschaft. Dennoch bleibt er ein Aussenseiter und misstrauisch gegenüber den "lackierten Angebern" seiner neuen Gesellschaftsschicht, die es leichter hatten als er. In seiner Familie wie in seinem Unternehmen ist er ein Patron, der zwar unglaublich tüchtig, fleissig, auch schlau ist, mit dem man aber nur auskommen kann, wenn man seine Spielregeln akzeptiert. Mit der Natur verfährt er im übrigen genau so wie mit der Familie: Flussläufe werden korrigiert und Ufer verbaut, wenn es der eigenen Sache, in diesem Fall der Stromversorgung, nützt.
Im Schatten dieses übermächtigen Mannes stehen alle seine Angehörigen: sowohl der Vater des Erzählers, eine empfindlichere, auch unsicherere Natur, ein Mann zudem, der in der Mitte seines Lebens plötzlich mit massiven Sehstörungen, ja einer teilweisen Erblindung zu kämpfen hat, die mehrere Operationen mit stromgeladenen Nadeln sowie Sanatoriumsaufenthalte nötig macht. Wir dürfen darin wohl eine Symbolik erblicken: Der Strom, der den Grossvater reich und mächtig gemacht hat, bewahrt dem Vater immerhin noch die Sehkraft und restituiert die Normalität. Zwar versucht der folgsame, still in sich hinein leidende Sohn immer wieder mit seinen Mitteln, für seine Familie und besonders für seine elegante, weltläufige Frau aus Bukarest eine eigenständigere Existenz aufzubauen. Doch die Fäden zieht bis zum Tag seines Todes der Grossvater. Als er eines Tages dem Familienrat mitteilt, dass er eine Fabrik gekauft hat, die seine Söhne leiten sollen, gibt es keinen Widerspruch, obgleich die Angehörigen des Erzählers sich in Basel viel glücklicher gefühlt haben als dort, wo sie nun hinmüssen.
Ich könnte Ihnen noch stundenlang weiter von dem Buch erzählen, denn es ist reich, dicht gewoben, prall von Geschichten und Schilderungen von dunkler Leuchtkraft. Dennoch möchte ich nun weg vom Was und hin zum Wie kommen, das in der Kunst bekanntlich die Hauptsache ist. Nur noch soviel: Auf den ersten Blick haben wir es hier mit einem spröderen Stoff zu tun als in Christian Hallers Mutterbuch mit seiner arabeskenreichen Poesie des versunkenen Bukarest mit seiner Fin-de-Siècle-Pracht. Doch dieser Eindruck ist nur zum Teil richtig. Auch in "Das schwarze Eisen" beschwört Haller die Magie einer untergegangenen Welt, und er tut das mit grosser Eindringlichkeit und Präzision. Wie aber schafft er das?
Sein Stil ist ein im Wortsinn eigenartiger. Er hat etwas Erratisches. Es stellen sich kaum Vergleiche mit anderen Schriftstellern ein. Viel eher kann man in einer Intervallschachtelung sagen, wie Christian Haller NICHT schreibt. Alles Gefällige geht ihm ab. Er macht keine Schnörkel, keine Pirouetten. In seiner Prosa ist nichts duftig und leicht hingeworfen, es gibt in ihr nichts Flüchtiges, Tänzerisches. Er ist kein Autor, der seine Virtuosität feiert. Glauben Sie nun übrigens bitte nicht, dass ich diese Begriffe alle in abwertendem Sinn verwendete und der Kunst des Faltenwurfs die klare Form eines strengen Prosaquaders entgegenstellen wollte. Ich reklamiere hier keine schmucklose Eigentlichkeit. Auch grosse Kunst kann Brillanz und Allure haben, und sie kann Vergnügen über ihr Gelingen zeigen. Das ist vollkommen in Ordnung. Hier aber haben wir es nun einmal mit einer ganz anderen Art von Kunst zu tun.
Christian Hallers Prosa ist streng gefügt und dicht, manchmal kantig und schroff, dabei aber anschaulich, sinnlich und so klar wie möglich. Sie arbeitet mit Überblendungen und fügt die Teile ineinander, wie sie in einem Stahlwerk ineinander gefügt werden mögen. Sie macht sich ein schweres, träges Material gefügig, aber sie tut ihm keine Gewalt an. Manchmal erinnert sie an komplizierte Maschinen, an schweres Gerät. Sie ist nicht immer leicht zu lesen, obwohl man jedes Wort versteht und nirgends absichtsvoller Tiefsinn zu entdecken ist. Sie ist konkret und genau, sie bleibt bei den Dingen und verirrt sich nicht in essayistischen Eventualitäten. Sie ist nicht hingetuscht, sondern gemeisselt. Aber sie ist nicht verkrampft oder feierlich, und sie ist auch nicht humorlos: Aber sie macht keine oberflächlichen Spässchen, sondern entdeckt den - oftmals grimmigen - Humor in den Dingen selbst.
Auf eine versteckte Weise ist sie sogar virtuos. Am besten sieht man das an den Passagen über die Fremdenlegion, den weissen Flecken in der Biographie des Grossvaters. Wo immer sie im Verlauf des in Bezug auf die Zeitebenen ziemlich komplex gebauten Buchs auftauchen, werden sie aufs Kunstvollste überblendet und verwoben mit Motiven und Personen aus Friedrich Glausers grossem Legionsroman “Gourrama”. Wie Haller das macht, ist grandios - gerade weil es ein Angebot an den Leser ist, das dieser annehmen kann oder auch nicht. Wer “Gourrama” kennt, liest hier einen Subtext mit, aber die Lektüre funktioniert auch ohne Vorkenntnisse, denn sie erschöpft sich nicht im bildungsbeflissenen Spiel.So geht es übrigens auch mit der zeitgeschichtlichen Dimension des Textes. Wer genau liest, kann in "Das schwarze Eisen" ein Stück kritisch und präzis beschriebene Schweizer Industriegeschichte entdecken. Aber der Text ist so dicht gewoben, dass auch diese Elemente völlig in ihm aufgehen. Wir haben hier nie das Gefühl, dass der Autor uns belletristisch verpackten historischen Nachhilfeunterricht erteilen will, wie er etwa in Otto F. Walters "Zeit des Fasans" an uns vollstreckt wurde. "Das schwarze Eisen" ist zwar kein in einem oberflächlichen Sinn "spannendes" Buch, es ist nicht auf eine Pointe hin geschrieben, und man verrät fast nichts von ihm, wenn man seinen Plot preisgibt. Das "Spannende" ereignet sich im Rhythmus der Sätze, in der Kraft der einander überlagernden Bilder. Die Textur ist dicht. Dennoch bleibt sie nah an der gesprochenen Sprache, am natürlichen Atem, am Pulsschlag des Menschen, so dass sie nicht gekünstelt oder konstruiert wirkt. Für meine Begriffe hat Christian Haller mit den beiden Romanen "Die verschluckte Musik" und "Das schwarze Eisen" eine Stufe erreicht, die ihn an die Epik Meinrad Inglins anschliessen lässt.
Eingangs habe ich davon gesprochen, dass im Vater- und im Mutterbuch zwei gegenläufige soziale Bewegungen zu beobachten sind. Zur kontrastiven Anlage der beiden Bücher liesse sich noch etliches mehr anfügen. Ist das zentrale Motiv des Mutterbuchs die Erinnerung, so ist es im Vaterbuch die Verdrängung. Dem entsprechen die literarischen Verfahren, dem entspricht bis ins Detail auch die Motivstruktur. Im Mutterbuch ging es darum, eine Überfülle flutender Bilder in eine Form zu bringen, im Vaterbuch geht es darum, aus disparaten Mosaiksteinchen ein Bild zusammenzusetzen. In beiden Fällen ist das Resultat farbig, lebensprall, überzeugend. Wie es dazu kommt, darüber möchte ich mich alsbald mit dem Autor unterhalten. Besonders die Fragen nach Quellensuche und Fiktion, nach Entdeckung und Verfremdung, nach biographischem Kern und künstlerischer Gestaltung soll uns beschäftigen. Es wird auch zu fragen sein, wie viel der Mensch, der hier unter uns sitzt, der laut Twixtel in Laufenburg wohnt und als Beruf "Schriftsteller" angibt, mit dem Ich-Erzähler zu tun hat, der im Buch auf der Terrasse seines Hauses in L. sitzt und sich so seine Gedanken macht. Zunächst aber haben wir das Vergnügen, Christian Haller lesen zu hören.
Neue Zürcher Zeitung
Der Ruck im Strom des Erzählens
Christian Hallers Roman «Das schwarze Eisen»
«Ein Ruck - der Wagen wurde hochgehoben, glitt für einen Augenblick durch die Luft.» So beginnt Christian Hallers Roman. Der Ruck bringt den Text in Gang und auf seine sprunghafte Bahn. Und er gibt schon eine Ahnung von den Brüchen, die die Biografien der Wageninsassen erleiden. Zwar lenkt der Vater den Wagen mit einem jungenhaften Lachen auf die richtige Spur zurück, aber das Rucken ist nicht mehr aufzuhalten: «Im Nash, sagte Mutter, im Nash wäre uns das nicht passiert.» Und der Sohn auf dem Rücksitz, der Ich-Erzähler, blickt in die finstere Winterlandschaft und fragt sich, «wohin wir in dem Wirbel und Sturm gerieten». Während die Mutter regressiv in die Vergangenheit zurückfällt, antizipiert er angstvoll die unsichere Zukunft. Die Familie H. ist auf dem Weg von B. nach A. Der Nash Ambassador 1947 mit seinem schwungvollen Heck, holzverkleideten Karosserieteilen und Weisswandreifen steht für das elegante städtische Leben, das die Familie in der nördlichen Grenzstadt aufgeben muss, um sich auf der vom Grossvater Hans H. vorgezeichneten «Familien-Koordinate» ins Mittelland zu verschieben. Der Industriemagnat hat seinem Sohn zur Erweiterung der familieneigenen «Eisen- und Stahlwerke AG» eine Giesserei gekauft. Der Nash war eine «Limousine». Der «mausgraue, enge Ford», In dem sie dem wirtschaftlichen Erfolg entgegenschleudern, ist nur noch ein Auto. So brechen schon in der ersten, von Haller subtil und suggestiv inszenierten Einstellung Zeiten und Lebensläufe auseinander. Mit einem linearen Text ist danach nicht mehr zu rechnen.
Aus dem Nichts
Der «Ruck» geht durch den ganzen Roman. Haller ist in der Verarbeitung der Sprachbilder von beeindruckender Konsequenz. Mit einem Ruck war Hans H. schon ins Wirtschaftsleben getreten: «aus dem Nichts», aus eigener Kraft. Ein anderer Ruck durchfährt ihn, wenn er die Jagdflinte abdrückt und die getroffene Rehgeiss auf die Seite kippt. Auch er gerät dabei ins Kippen: Unweigerlich erinnert sich sein Körper an den Ruck, den er damals in der Fremdenlegion verspürt hatte, als er sich erschiessen wollte und nur den Fuss traf. Das bleibt dem «breitbeinigen» Unternehmer noch anzusehen: am Ruck, den sein Körper jedes Mal braucht, um in Bewegung zu kommen. Er ist das Memento mori, die tägliche Antizipation des allerletzten «Rucks». Den Todes-Fall über die Treppe hat Hans H. dann aber nicht mehr so «meliorieren» können wie sein Leben und den Wasserfall von A., aus dessen Kraft er die Elektrizität holt für seine modernen Schmelzöfen. Und für das Wohl des Landes. «Hettler oder Heitler» - die Gestaltung der Begegnung mit ihm ist ein Prunkstück in dem, was Haller daraus nicht macht - stand er zwar nahe, und seine «neue Ordnung» vermochte zu überzeugen, aber er war doch nur ein «Gemeiner, ein Aufwiegler wie jener Kienzle in Sidi-Bel-Abbès. Auch sein Hass auf die «Jehudis», wie seine Schwiegertochter eine ist, kommt aus der Legion. Der Tycoon wird vom «Sergeant Schnider», in den der «Lämpeschnider»-Verdingbub geflohen war, eingeholt. Seiner Frau legt Hans H. ein Tuch über den Kopf, so wie sie es gemacht hatten mit den «Negerhuren».
«Abfahren» und «Aufräumen» wurden seine Losungsworte. Mit ihnen zerstörte er die Stromschnelle von A. Sie musste dem neuen, unsichtbaren «Strom» weichen und überlebte nur auf einem Gemälde, das der Enkel über dem Schreibtisch seines Grossvaters sieht. Der Maler rettete nicht die Natur, aber ein Bild von ihr. In Hallers Roman wird er zum Bild im Bild. Sein letztes Motiv, der schäumende und tosende «Laufen», wird ihm abgestellt, bevor er fertig ist. Der Maler, einst als «Prince des rochers du gorge du Rhin» bekannt, verhungert als verlachter «Kaiser der Hühner». Das Bild hat er später nach einer Fotografie zu Ende gemalt. In dieser Miniatur versteckt Haller ein melancholisches Spiegelbild des Schriftstellers. Melancholie, die zur Quelle der poetischen Kraft seines Romans geworden ist!
Die erste im Roman geschilderte Begegnung des Grossvaters mit seinem Enkel ist eine Abschiedsszene: «Mach's gut in deinem Leben, sagte er.» Zwei Tage später liegt der Patriarch tot unter der Treppe. Der Roman beginnt mit dem Ende des Grossvaters und erzählt auf dessen Ende hin. Damit kehrt er, den Regeln des klassischen Romans und des modernen Erzählens gleichermassen folgend, zu seinem eigenen Anfangen zurück. Sein Grundmuster ist die Wiederholung. Er folgt nicht einer Erzähllinie, sondern weitet sich zum Strom, zum Meer und Gewoge. Wie einsame Inseln liegen darin die archetypischen Erinnerungsbilder des immer wieder ins Bild gerückten Erzählers, der auf seiner Veranda über den Rand der Teetasse hinweg auf die verschwundene Flusslandschaft schaut (in der er sich als Schattenwurf erkennt).
Ein Roman über das Licht
Das Werk des Grossvaters will er nicht wiederholen. Er verweigert sich ihm durch das Erzählen. Aber nicht durch seinen Inhalt, sondern durch die Form, die er ihm gibt: durch das, was es selber zu einem Werk macht. Er schmilzt das Harte wieder in Weiches. Er gibt dem unerbittlichen Stahlmagnaten Hans H. Glut und Leben zurück. Der Koloss der Schweizer Unternehmergeschichte gerät in Hallers Roman zurück in unsere Nähe. Ohne dass er seine Unnahbarkeit aufhebt. Ohne dass er seine dunklen Stellen ausleuchtet. «Grossvater hatte keine Geschichte.» Das ist die erzählerische Herausforderung. Hallers grösste Leistung ist es, die Geschichtslosigkeit seiner Figuren in ihrer Geschichtlichkeit zu begreifen. Sie erzählbar zu machen, ohne sie zu hintergehen. Grossvaters Schweigen, sein introvertiertes «Ja Ja» und sein diabolisches «Hol Hol» füllen die Seiten, nicht der Autor. Der scheint nur zu warten, bis der Text die unsichtbaren «Gesichter» hervorspült, die sich hinter der «Gesichtslandschaft» des Grossvaters verbergen.
Christian Hallers Roman ist keine Industriellensaga (aus dem Stumpenland der Villigers und Burgers noch dazu). Genau in der Mitte hat er einen gewichtigeren Schwerpunkt: in der eindrücklichen Schilderung der Erblindung des Vaters (ein Scheitern in den Augen des Grossvaters), die ihm die «inneren Bilder» gibt. «Das schwarze Eisen» ist im Kontrapunkt zu seinem Titel ein Roman über das Licht, über das Sehen und die Bilder. Über das Verschwinden des Sichtbaren und seine Rettung in den Sprachbildern. Über einen Strom, der vom «Strom» verdrängt wird. Ein Roman also über die künstlichen «Paradiese» und die Kunst selber. Ein Roman, der Satz für Satz betroffen ist von dem, wovon er handelt. Ein Roman, der - ganz unverkrampft - mit der Imagination gegen das Erblinden anschreibt.
Samuel Moser
Elektrifizierte Seelen
Christian Haller führt durch Schweizer Wohnzimmer, Landschaften und Werkhallen: der autobiografisch inspirierte Roman "Das schwarze Eisen"
VON GUSTAV MECHLENBURG
Der Kunst- und Kulturkritiker Aby Warburg schrieb im Jahre 1895 über die Elektrizität: "Durch sie zerstört die Kultur des Maschinenzeitalters das, was sich die aus dem Mythos erwachsene Naturwissenschaft mühsam errang, den Andachtsraum, der sich in den Denkraum verwandelte." Der Sohn, Enkel und Ich-Erzähler aus Christian Hallers Roman "Das schwarze Eisen" sitzt bei einer Tasse Kaffee auf der Veranda und versucht rückblickend, einen solchen Andachts- und Denkraum zurückzugewinnen. Das Tal, auf das er blickt, gibt es in seiner Ursprünglichkeit nur noch auf dem Gemälde an der Wand. Die Elektrifizierung, vorangetrieben durch den Großvater, nötigte der Natur einen riesigen Stausee auf, in dem die bisherige kulturelle Welt mit untergegangen zu sein scheint. Vor allem die mystische Welt der Mutter des Erzählers, die der Großvater, selbst in Armut aufgewachsen und geschichtslos, nie akzeptiert hat.
Wie nah sich die beiden Erwachsenen sind, merken sie nicht. Die der Kultur verpflichtete Dame der Gesellschaft entfaltet ihre Vorstellungen von Geschichte in ebensolchen abgeschlossenen Stauseen, einer Art gedanklichem Elite-Aquarium, die vom wortkargen Schwiegervater tatsächlich hergestellt werden. Auf dass die Projektionen in der Tiefe des Sees zu einem Abklingbecken werden, für grausame Jugenderinnerungen, verklärende, magische Werte, den die Macht der Familie Haller fördernden technischen Fortschritt und die bizarren Begegnungen mit einem Mann, der "Hettler" oder "Heitler" genannt wird, lange vor dessen Machtergreifung in Deutschland.
Eine neue Zeit beginnt mit der Elektrizität, die die Schweiz nahezu unabhängig macht von Energie und Rohstoffen aus dem Ausland. Es ist die Zeit Hallers. Ein Aufsteiger und Aufschneider. Weil er gestohlen hatte, musste er in Jugendjahren zur Fremdenlegion nach Nordafrika. Eine bleibende Erfahrung, die er sein Leben lang verschweigt. Unwirsch und autoritär herrscht er, zurückgekehrt in die Schweiz, über sein Stahlwerk und seine Familie.
Der Vater des Ich-Erzählers, der seine Frau von einem Sanatoriumsaufenthalt her zu kennen meint, den er wegen drohender Erblindung unternehmen musste, folgt den psychischen Strukturen seines Vaters, ohne es zu wissen. Verliebte sich der Vater fast blind, pflegt der Großvater seine Frauen stets mit einem Tuch über ihren Gesichtern zu lieben. Die endgültige Emanzipation von den Auffassungen des alten Haller gelingt ihm erst in den Fünfzigerjahren. Die Erfindung der Spanplatte und deren massenhafter Gebrauch in Bürger- wie Proletarierhaushalten ist Sinnbild einer Nachkriegsmoderne, deren Projektionen starr auf das Zerschreddern und Neuverleimen der ganzen Gesellschaft gerichtet sind. Die Stausee-Metapher ist dem Spanplattenfabrikanten gleichgültig. Die Probleme mit den "Lackaffen" der feinen Schweizer Gesellschaft sind seine nicht länger. Was der Großvater verschwieg und die Frau verklärte, ist, zu Platten geformt, nun Teil eines Nierentischs, keine Herzensangelegenheit mehr: "Novo pan, der neue Herr."
Auch wenn sie hier betont wird, die Metaphorik ist höchst unauffällig, unaufdringlich, die Sprache des Romans detailverliebt und persönlich. Christian Haller schließt mit dem "Schwarzen Eisen" an sein ebenfalls autobiografisch inspiriertes Buch "Die verschluckte Musik" an. Ging es dort um die Welt der Mutter, die als Tochter eines Schweizer Textilindustriellen in Bukarest eine großbürgerliche Kindheit verbrachte, handelt das neue Buch vom väterlichen Zweig der Familie. Die Familiengeschichte Hallers ist zugleich ein Stück Schweizer Industrie-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Autor führt uns durch Wohnzimmer, Landschaften und Werkhallen. Und alles vereint im "Dörfli" in der Landesausstellung, das zum Leitbild schweizerischen Lebens wurde. "Ein frühes Disneyland, das durch ,Innenkolonisation' - wie ein Ausstellungsteil hieß - auf das ganze Land ausgedehnt werden sollte und in Teilen, wie den Gewässerkorrektionen, auch schon verwirklicht war."
Erinnert die Familiensaga Hallers an Thomas Manns "Buddenbrooks", so ist der Sanatoriumsaufenthalt bei ihm eine beabsichtigte Parallele zu Thomas Manns "Zauberberg". Warf dort der Erste Weltkrieg seine Schatten voraus, ist es hier das Dritte Reich. Der Physiker Löw bestätigt bei einem dieser Sanatoriumsgespräche die Ambivalenz des technischen Fortschritts. "Kandinsky, Chagall, das Entstehen der Avantgarde am Anfang des Jahrhunderts hat mit der Elektrizitätsforschung zu tun, mit dem Ikonoklasmus der Physik, und diese Maler und ihre Bilder werden jetzt abgelehnt, wie ich und meine Arbeit auch, sie werden zerstört, ihre Schöpfer verfolgt, während man gleichzeitig Hertz Entdeckung, die Radiowellen, den ,Äther', wie Löw spöttisch beifügte, auf so schamlose Weise missbraucht." Wie die faschistische Propaganda und der Krieg auch vor der Schweizer Grenze nicht Halt macht und wie auf ganz persönlicher Ebene Aufklärung in Mythos umschlägt, hat Haller in seinem Roman anhand einer außergewöhnlichen Familiengeschichte eindrücklich nachgezeichnet.
Christian Haller: "Das schwarze Eisen".
Roman. Luchterhand Verlag, München 2004,
400 Seiten, 22,50 Euro
taz Magazin Nr. 7531 vom 4.12.2004
GUSTAV MECHLENBURG
WOZ vom 14.10.2004 - Ressort Kultur
Schweigender Chrampfer
Von Corina Lanfranchi
Mit einem Glas eingemachter Zwetschgen als Proviant ist H. losmarschiert. Das war alles, was die Mutter ihm auf seine lange Reise mitgeben konnte. In Burgdorf muss sich der Jüngling als Kommis in einer Schreibstube verdingen, ein Fehltritt treibt ihn schliesslich in die französische Fremdenlegion. Jahre später sitzt der alte H. in seinem Garten, der Zwetschgenbaum trägt junges Laub. «Ihr könnt das alle nicht mehr wissen, was das heisst, nichts zu haben, nicht mal genug, um zu essen», denkt er. Laut sagen wird er dies niemandem, auch seinem Enkel, dem Ich-Erzähler, nicht: Grossvater erzählt keine Geschichten. Was dem Enkel bleibt: ein Bild von dem Menschen, der sein Grossvater gewesen ist - und der unausgesprochene Wunsch, «einen Teil seiner Vergangenheit mit meinem Dasein» zu erlösen. Indem er ihm eine Geschichte gibt?
Christian Haller geht in seinem Roman «Das schwarze Eisen» dem Bild des Grossvaters nach. Vor dem Hintergrund des «Elektrischen Saeculum», zu Beginn des letzten Jahrhunderts, erzählt er die Biografie dieses Mannes, der es als Armeleutekind zum Direktor der Maschinen- und Stahlwerke in A. schafft. Es ist eine gesellschaftliche Aufsteigergeschichte, es ist aber auch die private Geschichte einer Verdrängung. Denn zwischen dem Gestern und dem Heute liegen Abgründe, von denen freilich niemand etwas ahnt. Lebenslang holen den Grossvater die qualvollen Bilder seiner Legionärszeit ein, «diese feinstofflichen Überreste aus Gelebtem … längst Vergangenes und dennoch … so aufdringlich gegenwärtig». Sie überschatten sein Dasein, bestimmen es, lassen ihn einsam werden. Unzugänglich ist dieser Mann, ein «Chrampfer», der an den Willen, die Disziplin, die Schweiz und ihren künftigen Wohlstand glaubt; eine Autoritätsperson, die das Leben seiner Söhne bis zuletzt bestimmt, keinen Widerspruch duldet und das Lachen nicht kennt.
Aus der Distanz eines Jahrhunderts sucht der Enkel die Fragmente dieses Lebens zusammen. Mit seiner sinnlichen Sprache reist Haller durch die Zeit, verbindet historische Dokumente mit persönlichen Erinnerungen, stellt sich vor, was den Grossvater bedrängte, was er verdrängte, und beschreibt dies mit eindringlichen Bildern. Vergangenheit und Gegenwart gehen zuweilen ineinander über. Äusserst anschaulich entsteht wie nebenbei das Bild jener Epoche, in der der Glaube an den Kapitalismus ökonomischen Aufschwung verhiess und ein besseres Leben versprach. Verknüpft mit Grossvaters Familiengeschichte erzählt Haller auch ein Stück Schweizer Wirtschaftsgeschichte, die ohne Männer wie H. nicht denkbar wäre. Vorsichtig nähert sich der Enkel diesem herrischen Grossvater, spürt die innere Gebrochenheit, findet Worte für sein Schweigen und gibt ihm eine Geschichte; eine, wie sie vielleicht war - oder hätte sein können.
«Das schwarze Eisen»
AutorIn: Haller, Christian
Verlag: Luchterhand Literaturverlag. München 2004
Seiten, Preis: 312 Seiten. Fr. 39.50
literaturkritik.de » Nr. 12, Dezember 2004 » Deutschsprachige Literatur
Ein Umriss nur, doch übermächtig
Glanzvoll und ganz wortgewaltig schreibt Christian Haller die Saga einer Schweizer Industriellensippe weiter
Von Oliver Ruf
Glut loderte hervor, als der Gießer in den feurigen Schlund stach. Die Gusspfanne wurde herangebracht. Stahl darin, weiß glühend, ein Stück Wüstensonne. Hans H. blickte hinein, in die Glut, die er auch in seiner Erinnerung trug, "ein Brennen, das sich an Felsen und an Steinen brach, sich auffächerte zu einem rostigen Rot". Vergangenes bemächtigte sich seiner. So gewaltig, so beharrlich. Funken stoben auf, ein Firmament vorm geistigen Auge. Der Mann trug schwer an seiner Last. Diese Erinnerungen. Sie spielen die Hauptrolle in seinem Leben - und in Christian Hallers neuem Roman, der uns davon erzählt. Es geht um den Großvater des Ich-Erzählers. Hans H., "breitbeinig und eingewurzelt", unerbittlich, "ein Brocken Fels".
Die H.s hießen ehemals "Lämpe-Schniders". Sie gehörten zu den alten Ortsgeschlechtern und wohnten im Hinterdorf, in einer Bleibe, die eines Tages in Flammen stand. Die Familie fand sich im "Gullihaus" wieder. Sie hatten nichts, nicht einmal genug, um das Notwendigste zu zahlen. "Da!", sagte die Mutter deshalb zu Hans, "nimm, das ist alles, was ich dir geben kann ... Und jetzt geh!" Der Sohn nahm das Glas mit den eingemachten Zwetschgen und ging zwei Tage nach Burgdorf, um Commis zu werden, da er leserlich und sauber schrieb. Dort geschah dann die Sache, die ihm nur einen Ausweg bot: Mitten in der Nacht machte er sich auf, durch den Jura, Richtung Belfort, um ein "Bleu" im Orient zu werden.
Légion étrangère
Fünf Jahre verpflichtete er sich. Zum Dienst in der Wüste, im Posten der Söldner. Letztendlich ein Sergeant der Compagnie montée. Soldat Schnider, dem die Grande Nation das Ehrenzeichen eines Scharfschützen der Légion étrangère verlieh. Der sich ins Bein schoss und bis zuletzt am Stock ging. Der "es" nicht mehr los wurde, "diese Vergangenheit holte ihn ein, immer wieder, auf tückische, unvorhersehbare Weise". So legte er später das Tuch, das man auf das Gesicht der Ouled-Nail legte, wenn eine Hure in den Posten kam, auch auf das Gesicht seiner Gattin. Und sah in jeder vornehmen Frau jene junge Französin, die mit ihrem weiten sehnsüchtigen Dekolleté ihn erst angelächelt, dann verachtet hatte, am Hauptplatz von Sidi-Bel-Abbès, von wo aus er schließlich über Tunesien und Sizilien desertierte.
Diese Zeit hinterließ einen weißen Fleck in seiner Biografie. Samt einem Schatten auf dem Herzen. Die verheimlichte afrikanische Welt sorgte dafür, dass Hans H. "das Leben in schwarzes Eisen goss". Zurück in der Schweiz wurde er vorstellig bei den Maschinen- und Stahlwerken in A., bei denen er sich um die Firma in den Jahren des Ersten Weltkrieges außerordentlich verdient machte. Das Unternehmen konnte trotz schwieriger Beschaffungslage die Produktion verdoppeln. Jetzt war Hans H. Aktionär und Direktor der Gesellschaft. Den Erfolg des Konzerns, der sein eigener war, hatte ein perfektioniertes Stahlgussverfahren begründet, bei dem die Schmelze mittels Strom im Ofen erfolgt. Die Elektrizität hatte sein Schicksal beflügelt, hatte ihn zu einer allseits geachteten Persönlichkeit gemacht.
Erinnerung "hervorklamüsern"
Überhaupt ist Elektrizität ein fester Bestandteil dieses Buches. Christian Haller nutzt sie zur Spiegelung der Story. Dabei hat er in seinem Roman "Das schwarze Eisen" nicht nur deren Genealogie versiert verwebt, sondern bestimmt sie außerdem zum Leitmotiv der Handlung. Einmal ist etwa die Rede davon, dass sich schon Hans H.s Vater, der "Schnider-Rüedu", an Bogenlampen und Illuminationen erfreute. Ein andres Mal bewahrt sie Hans H.s Sohn sogar das Augenlicht: "Eine Landschaft war in seine Augen gefallen", urplötzlich fraß dunkler Nebel an dem Blick. Nur dünne Nadeln, die die Stromstöße leiteten (eine "Kathodenelektrolyse") und die der Arzt ins Auge stach, schenkten ihm wieder den Tag: "Licht, so wunderbar leicht wie flüssiger Äther, eine lautere Durchsichtigkeit".
So kreuzt die Elektrizität das Leben der H.s auf eine fast mythische Weise. Und immer ist es dazu auch die Vergangenheit der Hauptperson, die glüht und deren Nachkommen vereinnahmt. Es lagen "Trümmer" in ihnen, die ihr Geschick bestimmten und die sie weiterreichten, "Brocken, allmählich zerschrotet zu einer Art Fossilienschutt". Übermächtig die Bilder, das Glas eingemachter Zwetschgen, die Französin, das Tuch. Ständig durchbrechen sie den Plot. Rückschauen und Blenden schiebt Haller übereinander, Teil um Teil komplettiert er das Puzzle, das Epos der Familie eines Schweizer Großindustriellen. Die verkeilte Chronologie der Ereignisse lässt die Erinnerungen verkanten, die - stockfleckig geworden - Haller dem Erzähler nur häppchenweise gibt. Der muss sie verfugen, "hervorklamüsern, zusammenimaginieren". Das "Kopfalbum" entsteht, Kaffee trinkend, auf der Veranda, mit "Großvaters Bild" im Sehfeld: "Das Wehr, die Schützen, die Halle der Generatoren vor Jurazug und Hochkamin".
Bilderfülle, Bildersturm
Literarisch prächtig, vollkommen wortgewaltig überdenkt Haller die Wahrnehmung der eigenen Herkunft. Die prägt seine Figuren ganz deutlich. Neben Großvater und Vater auch die Mutter des Erzählers. Sie vermisst ihr früheres Dasein schmerzlich, sehnt sich zurück nach Bukarest, nach "ihrem" Rumänien, zu den "Dingen vor der Zeit". Damit schreibt Haller die Saga weiter. Denn das Fatum der Familie der Mutter hat er bereits in seinem vorangegangenen Roman "Die verschluckte Musik" (2001) beschrieben. Hier zeichnet sich ein Thema ab, das neben Haller ein zweiter Autor der Schweizerischen Gegenwartsliteratur aufgenommen hat. Auch Urs Widmer hat mit "Der Geliebte der Mutter" (2000) und "Das Buch des Vaters" (2004) dem jeweiligen Elternteil seines Erzählers gedacht. Die Perzeptionsästhetik beider Schriftsteller ist große Erzählkunst. Eine Bilderfülle, so ergreifend, so dicht, die sich selbst zu überwältigen vermag.
In Hallers "Schwarzem Eisen" offenbart sich im Abschluss ein Ikonoklasmus. Dem Kraftwerk, "Großvaters Bild", dem "Palast der Turbinen", seiner "Utopie", wird ein anderes Bild gegenübergestellt: "Ein unscharfes, schattenhaftes Schwarzweißphoto, graue Würfel, zwei parallele, geschwungene, dunklere Linien, Karrenspuren in einem weichen Untergrund, rechts, auf einem Buckel, eine Gestalt - ein Umriss nur wie aus dem Gleichgewicht gebracht: Anfang einer Bewegung, die nie enden würde, weil unklar blieb, zu welchem Abschluss sie gekommen wäre". Unscharf bleibt manches, die Personen, deren Nachnamen abgekürzt werden, die Orte, denen es nicht besser ergeht. Nur die Glut lodert deutlich hervor. Aus der Wüste, durch den Ofen, in Hans H.
Süddeutsche Zeitung
Eisenherz mit Stahlseele
Christian Haller gibt der Schweiz eine düstere Geschichte"Sein eigener Kampf war auch der seines Landes", heißt es von Hans H., dem langjährigen Direktor der Maschinen- und Stahlwerke im schweizerischen A., und dieser unerbittliche Kriegsgewinnler Hans H., der mit seiner Kälte alle frösteln machte, der Frau und Kinder in sein gnadenloses Schweigen hineinzog, damit sie so "reibungslos funktionierten wie Maschinen der Eisen- und Stahlwerke", dieser Mann mit der hellen Iris um einen Abgrund, der bodenlos und beängstigend war, weil er in ein Nichts führte, in eine endlose Nacht" - dieser Hans H., geboren 1880, war der Großvater von Christian Haller, Jahrgang 1942, "und ich, sein Enkel, schreibe noch immer an der Lügengeschichte weiter".
Wieder also, wie schon im Vorgänger „Die verschluckte Musik", hat sich Christian Haller auf familiäre Spurensuche begeben, und abermals ist ein Sprachkunstwerk allerersten Ranges entstanden. Zuvor war es mit dem Bukarest der Jahrhundertwende die mütterliche Lebenswelt, an wühlt sich der Erzähler tief hinein ins Herkommen des Großvaters väterlicherseits, will alles Lügnerische ihm entreißen. Jahrzehntelang und mit allen Mitteln kämpfte Hans H. gegen das Vergangene an. Er war ein rücksichtsloser Macher, der nur den Blick voraus kannte. Vergessen wollte er die Armut, der er entstammte, und die Tricks, denen er seinen Aufstieg verdankte, und die Jahre in der französischen Fremdenlegion. Dorthin floh Hans H., nachdem er, der kleine Sekretär, zu tief in die Kasse des Arbeitgebers gegriffen hatte.
In den afrikanischen Wüsten lernte „Sergeant Schnider", wie er sich nannte, die Liebe zu den Elementen und den Hass auf die Menschen. "Großvater trug eine Glut in seiner Erinnerung, ein Brennen, das sich in Felsen und an Steinen rach, sich auffächerte zu einem rostigen Rot, zu bläulichen Grautönen, die Luft in eine schlierig zitternde Masse verwandelte, angefüllt mit einer Stummheit, in der die Geräusche der Schuhe, der Hufe der Mulets gelöscht wurden".
Doch das Vergangene bricht sich Bahn, und sei es in Form von Angst und Scham. Hans H. spürte je länger, je bedrohlicher die Ängste wachsen, "dieses Grau, das er ein Leben lang beobachtet und gefürchtet hatte, weil es Not und Armut verhieß", ein "zersetzendes Grau, die Vergeblichkeit, die sich wie Schimmel in all das Erarbeitete und Erreichte fraß". In Hallers leitmotivisch eingesetzter Farbmetaphorik kontrastiert dem abweisenden Grau ein wärmendes Gelb - „das Gelb aus Mutters Erzählungen von Rumänien". Die Mutter des Erzählers verkörpert alles, was dem Großvater verhasst war: Extravaganz, Bildung, Stil, Ironie.
Auch wenn Ruth S. kleinere Hüte getragen und seltener von der Kindheit in Bukarest geschwärmt hätte, wäre sie für Hans H. eine Zumutung gewesen. Sie stand von vornherein auf verlorenem Posten, denn sie war eine Jüdin, und Juden mochte der Großvater nicht, "auch die Araber und Berber nicht, man war anders als sie". So ist es vielleicht kein Zufall, dass Großvater in den Zwischenkriegsjahren, als das elektrische Stahlgussverfahren den Franken schneller rollen ließ denn je, gemeinsam mit den Kollegen eines Abends nach Zürich fuhr. Ein bayerischer Volksredner erklärte in der "Villa Schönberg", wie er sich die Zukunft Europas vorstelle - und alles Zukünftige interessierte Hans H. brennend. Schnell begriff er, "dass er selbst ein wenig so war wie der da vorne", nur klüger, zäher, gewandter, "dieser Vortragsreisende würde ihm nie auch nur das Wasser reichen können". Sein Name war "Hett1er oder Heitler" oder so ähnlich.
"Das schwarze Eisen" ist der Versuch, Hans H. und damit der Schweiz eine Geschichte zu geben - die wahre Geschichte, denn an künstlichen Mythen herrscht kein Mangel. Aufräumen wollte der alte Herr mit den unproduktiven Gefühlen, und leistungshemmend, also schädlich waren alle Gefühle. Aufräumen wollte er mit Menschen, die Gefühle zeigen, "und genau das tat der Krieg". Noch als Greis strafte Hans H. die Enkel für schlechte Zensuren. Auch sein Lebenswerk, ein Stausee zur Stromgewinnung, ist Produkt eines eisernen Willens, der die Natur entstellt und die Menschen entseelt. Christian Haller zeichnet so am Beispiel seines Großvaters die mäandernden, schmerzhaften Wege nach, auf denen sich die Vergangenheit einen Weg ins lädierte Bewusstsein erzwingt.
Das ebenso psychologische wie erinnerungspolitische Anliegen des Autors weist über den konkreten Fall auch deshalb hinaus, weil Christian Haller die Abschnitte wie kleine szenische Miniaturen gestaltet, in sich vollendete Etuden der Einsamkeit. Wie bei Hermann Burger ist die Melancholie der Anfang des Staunens, wie Burger saugt Haller sich an den Worten fest, damit sie ihr Geheimnis preisgeben. Zugleich ist er, ähnlich wie Paul Nizon, ein Augenmensch, der wieder und wieder die Fotos der Ahnen befragt. Er sieht darauf Menschen, die ihrerseits blicken, und die Blicke, hofft er, führen ins Innere. Letztlich lassen sich aber der Großvater und der menschenfeindliche Geist, für den er steht, nicht auf den einen Begriff bringen.
In konzentrischen Kreisen nähert der Autor sich diesem Menschenfresser. Von Mal zu Mal wächst die Intensität, mit der das vergangene Leben befragt wird. Hans H., der ewige Kain, wollte das Beste und schuf eine ertragreiche Leere. Nach seinem Tod, heißt es, blieb wenig von ihm. Tröstliche Worte sind das eher nicht.
ALEXANDER KISSLER